Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Auf Andacht folgt Applaus
Das Schwörkonzert 2021 bietet Orgelsoli und Chorgesang, Werke von Bruckner – und es steht auch im Zeichen eines Abschieds
- Ein Spatz hatte sich ins Münster verirrt – und kaum einer schien es zu bemerken. Noch bevor das Konzert begann, flatterte der Vogel über den Steinboden, durch das Nordschiff, flog dort auf den Holzstühlen von einer Lehne zur nächsten, dort wo Minuten später die Sänger des Motettenchors Platz nehmen würden. Dieser kleine Ulmer Spatz kündigte ein ulmisches Ereignis an: Das Schwörkonzert 2021.
Zu diesem Fest im Ulmer Münster waren 440 Zuschauer, Getestete, Geimpfte, Genesene, zugelassen. Sie erlebten ein Konzert in inniger Stimmung: Wie eine große Andacht klang dieser Auftakt zum Schwörwochenende – zu den Ulmer Stadtfeiertagen. Mit Orgel, Chorgesang und einem, der Abschied von der Stadt nimmt.
Zwischen den Sitzplätzen bleibt Abstand, drei Menschen pro Bank, und auch das musikalische Geschehen verteilt sich coronagerecht. An drei Orten im Raum spielt die Musik: Eine Bühne zentral im Mittelschiff, eine am Ostende vor dem Chorraum – und der Motettenchor der Münsterkantorei singt im Nordschiff. Kantor Friedemann Johannes Wieland erklärt: „Zum ersten Mal seit einem Jahr darf der Motettenchor wieder in größerer Formation auftreten.“Der Weg hierhin führte über Proben in kleinen Grüppchen, über erste Münstergottesdienste. Erst am vergangenen Dienstag fanden sie wieder alle zusammen für die Probe. Das Traditionsensemble, gegründet 1956, bringt Lichtmomente in dieses Konzert. Beim Choral „Locus iste“von Anton Bruckner wie bei der „Abendruhe“, einem Mozartschen Lied. Klar, warm und hell klingt es. Dass die Sänger dabei auf Abstand platziert sind, ist eine akustische Herausforderung – aber so entsteht auch eine Klangbreite, die den Raum füllt und alle Sitzblöcke erreicht.
Zur Konzerteröffnung spielt aber Wieland als Solist an der Hauptorgel. Unbeirrt, fast stur lässt er die „Passacaglia et Fuga in C“voranschreiten, Nummer 582 im Bach-werke-verzeichnis. Über einer kräftig-dunklen Basslinie, die sich wie eine Formel wiederholt, entfalten sich komplexe Variationen, die sich immer fülliger verzweigen und verdichten, bis zum vollen Maß der Klangwucht.
Vogelleicht setzt dann Tamasz Füzesi einen Kontrast. Der Konzertmeister des Ulmer Philharmonischen Orchesters präsentiert eine andere Facette des Johann Sebastian Bach: Solo, aber filigran und ungeschmückt, im Andante aus der Solosonate Nr. 2 a-moll für Violone, BWV 1003. Es ist ein besinnlicher Satz, der einen Puls entwickelt, und dieses Atmen in der Musik, diesen Takt setzt Füzesi im perfekten Spiel mit der Akustik des weiten Kirchenraums. Anton Bruckner – der Name steht für Musik, die aus dem Glauben schöpft, und vor allem für spätromantische Sinfonik. Dass sich der Österreicher auch an kleinen Formaten versucht hat, findet eher selten Beachtung. Das Adagio aus seinem Streichquintett in F-dur von 1878 ist sein einzig vollendetes, vollwertiges Stück Kammermusik. Und trotzdem bleibt Bruckner hier Bruckner: Mit feinen Fühlern für die Klangentfaltung bieten Musikern des Philharmonischen Orchesters diesen Satz dar. Es wirkt wie der Nachklang eines sinfonischen Adagios, fern und schwebend, zwischen Schwelgen, Gebet und Kontemplation.
Die Philharmoniker hatten das erste Schwörkonzert in der Pandemie 2020 noch mit Bläserformationen bestritten. Auch das Festkonzert 2021 prägen kleine Ensembles. Am Cembalo nimmt Timo Handschuh Platz – vielleicht zum vorerst letzten Mal bei einem Schwörkonzert. An den Generalmusikdirektor des Theaters Ulm, der in diesem Sommer sein Amt abgibt, richtet sich Wieland im Programmheft: Er dankt ihm „für die wunderbare, kollegiale Zusammenarbeit in den letzten zehn Jahren“.
Für diesen Moment wählt Handschuh einen Evergreen, Bachs Brandenburgisches Konzert Nummer drei. Bewusst beherrscht und kontrolliert, aber nicht ohne Spielgenuss, beginnt das Streich-ensemble um Handschuh. In der Mitte des Baus, im Kern des Kirchenschiffs, konzentriert sich der Klang um das schnarrende Cembalo. Nach einer kurzen Kadenz spielt sich das Ensemble dann vollends frei, auf die Zäsur folgt der Spieltrieb mit Drang nach vorne.
Dieses Konzert der ernsten, innigen Töne erntet stehenden Applaus, in allen Winkeln des Münsters. In allen? Nein. Der Chorraum ist gesperrt und teils eingerüstet, denn hier wird bald eine neue Chororgel errichtet. Das Münster sucht nach Spendern und Paten für die Pfeifen, unter www.meine-pfeife.de. Vielleicht wird die neue Chororgel ihren Klang zum nächsten Schwörkonzert beisteuern, 2022.