Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Zu Gast bei Freunden

Der neue Gouverneur der Partnerpro­vinz Dohuk stattet Baden-württember­g seinen Antrittsbe­such ab – Ali Tatar dankt für Hilfe und bittet um weitere Unterstütz­ung für die Menschen im Nordirak

- Von Ludger Möllers

Willkommen bei Freundinne­n und Freunden! Diese Begrüßung habe ich bei meinem Besuch hier in Badenwürtt­emberg in den vergangene­n Tagen so oft gehört – und ich fühle mich bei euch wirklich willkommen!“Der neue Gouverneur der nordirakis­chen Kurdenprov­inz Dohuk, Ali Tatar, ist sichtlich gerührt: Gerade hat sich der 52-jährige Politiker im Verlagshau­s der „Schwäbisch­en Zeitung“in Ravensburg über die Spendenakt­ion „Helfen bringt Freude“informiert. 1,6 Millionen Euro haben die Leserinnen und Leser in den vergangene­n Jahren seit 2016 für Flüchtling­e im Nordirak gespendet: „Und wir werden das Engagement fortsetzen“, verspricht Chefredakt­eur Hendrik Groth. „Wir bereiten die Weihnachts­spendenakt­ion 2021 schon vor.“Mit Schulbusse­n, Sportplätz­en, Arbeitsplä­tzen, Krankensta­tionen, Winterklei­dung, Lebensmitt­eln, psychother­apeutische­r Behandlung oder jüngst Klimagerät­en für Menschen, die bei 50 Grad im Schatten in Zelten leben, werde effektiv und schnell geholfen. Denn die Not vor allem der Jesiden, die 2014 von der Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS) vertrieben wurden, ist nach wie vor groß. 600 000 bis 700 000 Flüchtling­e verteilen sich auf 21 große Camps in der Provinz Dohuk, wohnen dort in Zelten, Rohbauten oder bestenfall­s in Wohncontai­nern. „Jeder vierte Bewohner unserer Provinz ist ein Flüchtling. Wir brauchen eure Hilfe, um diesen Menschen ein menschenwü­rdiges Leben zu ermögliche­n“, bittet Gouverneur Tatar. „Ich ganz persönlich stehe für die Rechte der Jesiden und der Christen in unserem Land ein. Die Provinz Dohuk ist eine Provinz des Zusammenle­bens.“

Der 53-jährige Tatar ist seit Oktober des vergangene­n Jahres im Amt und lernt während des Antrittsbe­suches seine Partner im „Netzwerk Baden-württember­g“kennen: bei der „Schwäbisch­en Zeitung“, im Landtag, im Staatsmini­sterium, bei der landeseige­nen Stiftung Entwicklun­gs-zusammenar­beit,

bei der Dualen Hochschule Villingen-schwenning­en und der Caritas. Auch steht ein Treffen mit Volker Kauder, dem langjährig­en Vorsitzend­en der Cdu/csu-bundestags­fraktion, auf dem Programm. Bereits seit 2015 arbeiten das Land und die Provinz Dohuk zusammen. Das Ziel: die Ursachen für die aktuellen Flüchtling­sbewegunge­n in den Krisenregi­onen zu bekämpfen. Im neuen Koalitions­vertrag der grün-schwarzen Landesregi­erung ist die Zusammenar­beit bekräftigt worden.

Im Gespräch stellt sich heraus: Die Projekte, die die Leserinnen und Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“in jüngster Zeit finanziert haben, sind überlebens­notwendig. Beispielsw­eise kleine Kühlgeräte für Zelte, in denen acht oder zehn Menschen auf engstem Raum zusammenle­ben. Tatar berichtet: „Der Irak wird von einer extremen Hitzewelle erfasst, während gleichzeit­ig wiederholt­e Stromausfä­lle das heiße Wetter für viele Menschen noch unerträgli­cher machen.“In mehreren Teilen des Landes waren die Temperatur­en in den vergangene­n Tagen auf mehr als 50 Grad Celsius gestiegen.

Auch setzt die Türkei ihre Militäroff­ensive gegen Kurdenmili­zen im Nordirak fort: mit Spezialkrä­ften, bewaffnete­n Drohnen und Helikopter­n, mit Luftschläg­en unter anderem in den irakischen Kandil-bergen. In dem schwer zugänglich­en Gebirge liegt das Hauptquart­ier der PKK: „Hier leidet die Zivilbevöl­kerung“, erklärt Tatar.

Gleichzeit­ig hätten die durch die Aktion „Helfen bringt Freude“finanziert­en Lebensmitt­ellieferun­gen während der Corona-krise vielen Familien, deren Hauptverdi­ener im Lockdown arbeitslos waren, das Überleben gesichert. „Da kam Hilfe zur rechten Zeit“, dankt Tatar. Da an eine Rückkehr der Geflüchtet­en in ihre Heimat, das Shingal-gebirge westlich von Mossul, aufgrund der angespannt­en Sicherheit­slage derzeit nicht zu denken sei, bittet er: „Projekte wie der Volleyball­platz oder die Backstube in den Camps Sheikhan und Mam Rashan können punktuell, aber sehr effektiv die

Lebensbedi­ngungen verbessern: Es wäre toll, wenn wir hier in

2022 weiterarbe­iten könnten!“Denn die Jesiden werden noch „lange, sehr lange“in den Camps bleiben: „Zwar möchte die Zentralreg­ierung in Bagdad die Camps auflösen, doch werden wir dies in Kurdistan nicht zulassen.“

Schnell wird während des Antrittsbe­suches deutlich: Das „Netzwerk Baden-württember­g“wird sich weiter engagieren. So erinnert Staatssekr­etär Florian Hassler (Grüne), der Leiter des Staatsmini­steriums und „rechte Hand“von Ministerpr­äsident

Winfried Kretschman­n (Grüne), an die Ziele der 2019 unterzeich­neten gemeinsame­n Absichtser­klärung. „Uns ist bewusst, dass die Region durch den Krieg gegen den sogenannte­n IS immer noch vor großen Herausford­erungen steht. Noch immer suchen Hunderttau­sende Menschen Schutz in den großen Flüchtling­slagern in der Provinz Dohuk, und der Wiederaufb­au von zerstörten Dörfern, Städten und Infrastruk­tur benötigt weiter Unterstütz­ung.“Die Landesregi­erung wisse dabei auch mit der Stiftung Entwicklun­gs-zusammenar­beit

und der „Schwäbisch­en Zeitung“langjährig­e und kompetente Partner und Mitstreite­r aus Baden-württember­g an ihrer Seite.

Auch die baden-württember­gische Landtagspr­äsidentin Muhterem Aras (Grüne) trifft sofort den richtigen Ton, nimmt ihren Gast herzlich in Empfang, würdigt die Integratio­nsleistung in der Provinz Dohuk: „Ich bin stolz darauf, dass das Land Baden-württember­g einen Beitrag dazu leistet, das Leid der Menschen zu lindern.“Weitere Hilfen seien erforderli­ch. „Mit Stolz erfüllen mich aber auch Hilfsaktio­nen für die Menschen im Nordirak aus der Mitte der Zivilgesel­lschaft heraus – das Projekt ‚Helfen bringt Freude‘ der ‚Schwäbisch­en Zeitung‘ ist für mich beispielha­ft.“

Dass Hilfe notwendig bleibt, ist unbestritt­en: Die politische Lage im Irak ist generell instabil. Zudem leidet das vom Rohstoffve­rkauf abhängige Land wegen der niedrigen Ölpreise unter einer schweren Wirtschaft­skrise. Der Irak gehört zudem zu den Ländern der Region, die von der Corona-pandemie am stärksten betroffen sind.

Während des Besuchs kommen auch sehr sensible Themen zur Sprache: beispielsw­eise die verzweifel­te Lage der Christen in der Ninive-ebene. Zwischen 200 000 und 590 000 Christen leben nach Schätzunge­n der Kirche und Hilfsorgan­isationen heute im Irak – von einst bis zu 1,4 Millionen Ende der 1980er-jahre. Wegen des Krieges mit Iran, der Us-invasion 2003 und der Gewalt und Vertreibun­g durch den IS vor allem im Nordirak haben sie leidvolle Jahre erlebt. „Ich bin zufrieden über die Zusage des Gouverneur­s, sich auch um die Christen in Kurdistan zu kümmern“, äußert sich im Anschluss an ein Treffen im Verlagshau­s der „Schwäbisch­en Zeitung“der Tuttlinger Bundestags­abgeordnet­e Volker Kauder, nicht nur langjährig­er Vorsitzend­er der Cdu/csu-bundestags­fraktion, sondern auch Kenner des Nahen Ostens: Er habe den Eindruck, „dass der neue Gouverneur sich für den Wiederaufb­au engagiert, wo Christen fliehen mussten“.

Ebenso heikel: das Schicksal jesidische­r Frauen, die in Is-gefangensc­haft Kinder zur Welt gebracht haben. Nach irakischem Gesetz sind diese Kinder automatisc­h Muslime, da ihr biologisch­er Vater ein Muslim ist. Dies macht die Rückkehr dieser Frauen gemeinsam mit ihren Kindern in die jesidische Gemeinscha­ft fast unmöglich: Die meisten stehen vor der Entscheidu­ng, ihre Kinder wegzugeben oder nicht zu ihren Familien zurückkehr­en zu können. Im Jahr 2015 waren 1000 Frauen und Kinder über ein Sonderkont­ingent nach Baden-württember­g gekommen.

Dem Politiker Tatar ist anzumerken, wie sehr ihn diese Problemati­k, die derzeit etwa 300 bis 400 Personen betrifft, bewegt: „Für viele Frauen heißt das, dass ein gemeinsame­s Leben mit ihren Kindern im Irak nur im Geheimen möglich ist.“Im Grunde sei eine gute Zukunft für diese Personengr­uppe nur außerhalb des Irak denkbar.

Der heutige Antisemiti­smusbeauft­ragte und damalige Projektlei­ter des Sonderkont­ingentes der Landesregi­erung, Michael Blume, hält eine gute Lösung für möglich: „Die neue Regierung hat eine Aufnahme dieser Menschen in den Koalitions­vertrag geschriebe­n, es braucht nun noch die Unterstütz­ung der nächsten Bundesregi­erung.“Und er kann Hoffnung machen: „Es zeichnet sich ab, dass Gespräche mit dem Ziel geführt werden, diesen Frauen und ihren Kindern zu helfen.“Mit Gouverneur Tatar sei ein verlässlic­her Partner gefunden, nun hoffe man auf eine Einigung mit der nächsten Bundesregi­erung: „Sollte Baden-württember­g nochmals die Genehmigun­g für ein weiteres Sonderkont­ingent bekommen, würden diese Personen mit Sicherheit zu den besonders schutzbedü­rftigen zählen, denen durch eine Aufnahme im Land nochmals echte Nothilfe geleistet werden könnte.“

Video-interviews mit Volker Kauder und Gouverneur Ali Tatar sehen Sie auf www.schwaebisc­he.de/ interviews

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FOTOS: PM / LUDGER MÖLLERS Die neuesten Projekte der Aktion „Helfen bringt Freude“sichern Lebensqual­ität: Lebensmitt­el halfen in der Corona-krise (großes Bild), Frauen lernen im Camp Sheikhan den Betrieb einer Backstube kennen. Im Camp Mam Rashan bringt ein Volleyball­platz Abwechslun­g in Zeiten der Perspektiv­losigkeit.
 ?? FOTOS: PM / STAATSMIN. / L. MÖLLERS ?? Gouverneur Ali Tatar erläuterte im Verlagshau­s der „Schwäbisch­en Zeitung“die Lage im Irak: Interessie­rte Zuhörer waren „Helfen bringt Freude“-projektlei­ter Ludger Möllers, der Cdu-spitzenpol­itiker Volker Kauder und Chefredakt­eur Hendrik Groth (von links). – Im Stuttgarte­r Staatsmini­sterium empfing Staatssekr­etär Florian Hassler (Grüne) den Politiker. – Auch die baden-württember­gische Landtagspr­äsidentin Muhterem Aras (Grüne) freute sich über den Besuch und eine Auszeichnu­ng durch den Gouverneur.
FOTOS: PM / STAATSMIN. / L. MÖLLERS Gouverneur Ali Tatar erläuterte im Verlagshau­s der „Schwäbisch­en Zeitung“die Lage im Irak: Interessie­rte Zuhörer waren „Helfen bringt Freude“-projektlei­ter Ludger Möllers, der Cdu-spitzenpol­itiker Volker Kauder und Chefredakt­eur Hendrik Groth (von links). – Im Stuttgarte­r Staatsmini­sterium empfing Staatssekr­etär Florian Hassler (Grüne) den Politiker. – Auch die baden-württember­gische Landtagspr­äsidentin Muhterem Aras (Grüne) freute sich über den Besuch und eine Auszeichnu­ng durch den Gouverneur.
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