Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
„Es ist unverständlich dumm, sich nicht impfen zu lassen“
Virologe Thomas Mertens über die erlahmende Impfkampagne und die nächste Corona-welle
- Die Sieben-tage-inzidenz in Deutschland steigt seit über zwei Wochen kontinuierlich an. Auf einem niedrigen Niveau zwar – aber das könnte sich spätestens im Herbst ändern, sind Virologen sicher. Vor diesem Hintergrund drängt Thomas Mertens, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission am Robert-koch-institut, auch jüngere Erwachsene, sich impfen zu lassen. Davon werde die Höhe und Schwere der nächsten Infektionswelle abhängen. Zu Berichten über Geimpfte, die dennoch an Covid-19 erkranken, sagt Mertens, dies komme deutlich seltener vor als bei Ungeimpften.
In Großbritannien wurden jetzt viele Corona-auflagen beendet, Premierminister Boris Johnson appelliert stattdessen an das Verantwortungsbewusstsein jedes einzelnen Bürgers. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf die Entwicklung dort?
Mit sehr gemischten Gefühlen. Ich kann gut verstehen, dass die Menschen sich überall nach einem „normalen“Leben sehnen. Bei einer hohen Impfquote werden die Infektionsraten zunehmen, aber die Belastung der Krankenhäuser und des Medizinsystems nicht so rasch wie bei den vorangegangenen Wellen.
Wenn allerdings die Infektionszahlen zu stark ansteigen, wird sich das dann auch auf die medizinische Versorgung auswirken. Es ist also ein Balanceakt, und es wäre gut, diesen gegebenenfalls rechtzeitig zu steuern.
Und wie bewerten Sie die Lage in Deutschland? Hier steigen die Infektionszahlen gerade bei jüngeren Menschen.
Unser ganz zentrales Problem in Deutschland ist die Impfquote bei den 18- bis 59-Jährigen. Es ist unverständlich dumm, wenn sich diese Menschen jetzt nicht rasch impfen lassen. Denn davon wird die Höhe und Schwere der nächsten Infektionswelle für uns alle entscheidend abhängen. Wenn wir zum Beispiel eine Impfquote von mindestens 75 Prozent in dieser Gruppe erreichen würden, bekämen wir die erwünschte flache Welle.
Es häufen sich die Berichte von Menschen, die trotz vollständiger Impfung an Corona erkranken und die Krankheit auch weitertragen. Wie bewerten Sie diese Fälle?
Solche Berichte gab es ja immer, und man muss bedenken, dass es bereits in den Zulassungsstudien einige vollständig Geimpfte gab, die nach der Impfung doch erkrankt sind. Die Zahl der Erkrankungen nach Impfung – alle, unabhängig von der
Schwere der Erkrankung – war abhängig vom Alter der Impflinge und bei dem Astrazeneca-impfstoff auch deutlich vom Abstand zwischen den beiden Impfungen. Der vollständige Schutz vor Erkrankung lag in den Zulassungsstudien für alle Impfstoffe zwischen 60 Prozent und 95 Prozent. In den späteren Anwendungsstudien hat sich gezeigt, dass der Schutz vor schwerer Erkrankung und Krankenhausaufnahme bei allen Impfstoffen mit über 80 Prozent deutlich höher war. Hinsichtlich der Übertragung der Infektion durch zuvor Geimpfte – unabhängig davon, ob sie erkranken oder nicht – kann man sagen, dass dies möglich ist, aber bedeutend weniger häufig vorkommt als bei Ungeimpften.
Menschen, deren Immunsystem unterdrückt ist, so genannte Immunsupprimierte, muss man hinsichtlich aller vorgenannten Überlegungen getrennt betrachten.
Treten diese Fälle bei bestimmten Impfstoffen oder Impfstoff-kombinationen statistisch häufiger auf ?
Hinsichtlich des Schutzes vor Erkrankung mit Covid-19 kann man das derzeit nicht sagen. Der Schutz vor schwerer Erkrankung ist auch bei Infektion mit der Delta-variante derzeit allgemein sehr gut. Betrachtet man die im Labor messbare Immunantwort der Geimpften, so ist diese nach zwei mrna-impfungen und nach heterologer Impfung, also erstens Astrazeneca-impfstoff und zweitens Biontech, deutlich höher als nach zwei Astrazeneca-impfungen.
Was bedeutet es für die weitere Dynamik der Pandemiebekämpfung, wenn auch Geimpfte das Virus weiterverbreiten können?
Es bedeutet, dass wir auch weiterhin die bekannten empfohlenen Maßnahmen zur Verhinderung von Virusübertragungen (AHA+L) nicht alle aufgeben sollten, sondern uns vor allem in Räumen und bei Kontakten mit gefährdeten Menschen sinnvoll und verantwortungsvoll verhalten sollten.