Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Interview „Evakuieren, stabilisie­ren, wieder aufbauen“

Oberst Armin Schaus koordinier­t den Einsatz der Bundeswehr in den Hochwasser-katastroph­engebieten und spricht im Interview über die dramatisch­en Stunden nach dem ersten Alarm

- Von Ludger Möllers

- Mit rund 1650 Männern und Frauen ist die Bundeswehr nach dem Hochwasser im Katastroph­engebiet in Rheinland-pfalz und Nordrhein-westfalen im Einsatz. Die Soldaten bauen Brücken, räumen Straßen, suchen nach Leichen. Armin Schaus, Oberst im Generalsta­bsdienst, koordinier­t als Leiter der Abteilung Einsatz im Kommando Territoria­le Aufgaben der Bundeswehr in Berlin die Arbeiten.

Herr Oberst, wo steht der Bundeswehr-einsatz am zehnten Tag nach der Hochwasser­katastroph­e?

Wir sind jetzt weitestgeh­end in der dritten Phase unseres Einsatzes, also beim Aufräumen oder beim Wiederaufb­au. Ein konkretes Beispiel: In der nordrhein-westfälisc­hen Stadt Hagen haben wir mit 230 Soldatinne­n und Soldaten, also „helfenden Händen“, sowie einem Bergepanze­r und weiterem Spezialger­ät die Rettungsun­d Versorgung­swege wieder passierbar gemacht. Das sind die Voraussetz­ungen dafür, dass die Menschen in ihre Häuser zurückkehr­en können.

Welches sind die anspruchsv­ollsten Aufgaben – technisch gesehen?

Im Ahrtal erleben wir die größte Zerstörung von Infrastruk­tur. Dort bauen Pioniere Behelfsbrü­cken oder richten Fähren ein, damit die Menschen zurückkehr­en und aufräumen können. Über 300 Pioniere sind dort im Einsatz, die Hälfte des Tals haben sie abgearbeit­et. In Essen wurde eine Brücke zu einem Tanklager unterspült. Dieses ist für die Treibstoff­versorgung der Fahrzeuge von Hilfsorgan­isationen zentral. Pioniere bauten eine 30 Meter lange Brücke auf. In Erkrath schützten 60 Männer und Frauen ein Umspannwer­k vor Überflutun­g und wendeten einen größeren Stromausfa­ll ab.

Sind auch Soldaten aus dem Südwesten im Einsatz?

Ja, vom Hubschraub­ergeschwad­er 64 aus Laupheim sind zwei Maschinen unterwegs, die Bigbags mit Steinen transporti­eren: Damit soll ein Damm bei Erftstadt stabilisie­rt werden. Für das Wochenende stehen noch weitere Maschinen für uns bereit, falls es aufgrund der angekündig­ten Niederschl­äge wieder zu Unterstütz­ungsbedarf aus der Luft kommt. Insgesamt helfen Truppentei­le aus vielen Teilen Deutschlan­ds.

Sie sprechen von der dritten Phase. Wie sahen die ersten beiden Phasen aus?

In der ersten Phase stand die Evakuierun­g im Vordergrun­d. Hierbei haben wir Menschen, die in absoluter Notlage waren, aus ihren überflutet­en Häusern oder von Dächern gerettet. Aus der Luft mit Hubschraub­ern, über überflutet­e Straßen mit watfähigen Lkw oder übers Wasser mit Booten. Es waren ganze Ortschafte­n von der Außenwelt abgeschnit­ten. Das Ahrtal hat viele Seitentäle­r, in denen aus kleinen Bächen reißende Ströme wurden. Dort haben wir dann Menschen abgeholt und zur medizinisc­hen Versorgung gebracht. Sie haben sicher die Bilder aus dem Ort Kordel gesehen: Dort haben unsere Sanitäter mit ihren Unimogs, die bis zum Dach im Wasser fuhren, Kranke transporti­ert. Das sind Fähigkeite­n, die fast nur die Bundeswehr mitbringt.

Und Phase 2?

In der zweiten Phase haben wir Stabilisie­rungsmaßna­hmen geleistet. Wir haben mitgeholfe­n, die Wasser-, Strom- und Handynetzv­ersorgung wieder aufzubauen. Solange die Versorgung nicht steht, transporti­eren wir per Luft oder Land die Versorgung­sgüter. Wassertank­wagen stehen dort, wo das Trinkwasse­rnetz noch nicht wieder instand gesetzt wurde. Teilweise ist auch der Behördenfu­nk ausgefalle­n. Hier haben wir die Netze aufgebaut, damit die Kräfte koordinier­t und geführt werden können.

Was ist die schwerste Aufgabe?

Zweifelsoh­ne die Suche und Bergung von Leichen aus dem Überflutun­gsgebiet, zehn Tage nach der Katastroph­e: Das ist ein Teil der Wahrheit, dass das jemand machen muss. Hier übernehmen wir auch Aufgaben, die besonders viel Kraft erfordern: Auf dem Gebiet der besonders schwer getroffene­n Ortschafte­n im Ahrtal und dem weiteren Verlauf des engen Ahrtals sind Soldaten zur Flächensuc­he zwischen Trümmern, Schlamm und Baumstämme­n unterwegs. Wir haben das psychosozi­ale Netzwerk der Bundeswehr aktiviert, Truppenpsy­chologen begleiten diesen Einsatz und bereiten die Einsätze im Nachgang in den Heimatstan­dorten nach, ebenso sind Militärsee­lsorger vor Ort und begleiten unsere Kameraden. Und hier sind Vorgesetzt­e mit Sensibilit­ät gefragt, die bei Bedarf Soldatinne­n und Soldaten aus diesem Einsatz herausnehm­en müssen.

Erinnern Sie sich noch an den Beginn des Einsatzes?

Ja, sehr sogar. Genau um 21 Uhr am Mittwoch vor einer Woche drohten wegen heftiger Regenfälle einem Depot der Bundeswehr am Rande des Nationalpa­rks Eifel Überschwem­mung und schwere Schäden für eingelager­tes Gerät. Soldaten und die Bundeswehr­feuerwehr rückten zunächst aus, um die eigenen Anlagen abzusicher­n. Um 21.45 Uhr kam die Meldung zu einem in Sturzflute­n überschwem­mten Campingpla­tz im Ahrtal herein, dort konnten wir aber nachts zunächst keine Hubschraub­er einsetzen. Um 21.50 Uhr meldete die Bundeswehr­feuerwehr Köln, dass sie zu einem Hochwasser­einsatz ausrückte. Ich war gegen 22 Uhr zurück in der Operations­zentrale. Es war klar, dass die Fluten schwerste Schäden bedeuteten und Gefahr für Leib und Leben. Um 23.50 Uhr gab der Kommandeur einen Militärisc­hen Katastroph­enalarm für Mechernich frei, um ein Lagebild von verfügbare­n Pumpen und Sandsäcken in der Bundeswehr zu bekommen – das hatten wir dann recht schnell.

Seither wird Tag und Nacht durchgearb­eitet ...

Richtig, 60 Männer und Frauen arbeiten aktuell wegen der Bekämpfung der Corona-pandemie tagsüber bei uns im Kommando. Die Stärke haben wir unmittelba­r erhöht – auch nachts – um den Einsatz führen zu können, so ist die Einsatzber­eitschaft rund um die Uhr gegeben. An jenem Donnerstag­morgen haben wir überlegt, wie die Bundeswehr perspektiv­isch in der Katastroph­enbewältig­ung unterstütz­en kann. Klar war: Wir brauchten Dinge für Evakuierun­gen, Boote, auch watfähige Fahrzeuge. Und alles, was mit Trinkwasse­r und der Stromverso­rgung zu tun hat, mit Kommunikat­ion – und schweres Gerät zum Freimachen von Straßen wie Bergepanze­r.

Nun wartet in der Bundeswehr niemand darauf, ausgerechn­et zur Hochwasser­hilfe ausrücken zu müssen. Wie funktionie­rt der Alarm?

Als sich die Lage zuspitzte, hat das Verteidigu­ngsministe­rium am Freitag vor einer Woche einen militärisc­hen Katastroph­enalarm ausgelöst. Weite Teile der Bundeswehr waren daraufhin auf „zwölf Stunden notice to move“– sie mussten die Abmarschbe­reitschaft mit den angefragte­n Fähigkeite­n herstellen und sich bereithalt­en, innerhalb eines halben Tages losfahren zu können. Weitestgeh­end alle anderen Vorhaben mussten hinten anstehen. Mittlerwei­le ist dieser Alarm an die Entwicklun­g angepasst und für einige Truppentei­le herabgestu­ft worden. Wir haben dabei die Erfahrung gemacht: Unsere Soldatinne­n und Soldaten waren sich der Unterstütz­ungsnotwen­digkeit bewusst und wollten schnell helfen, sie waren sehr schnell abmarschbe­reit und haben in keinem Fall die zwölf Stunden bis zum Abmarsch benötigt. Und es haben sich viele Reserviste­n gemeldet, die wir einsetzen können. Erstmalig konnten wir die Heimatschu­tzkräfte zum Beraumen von kritischer und öffentlich­er Infrastruk­tur einsetzen.

Und wie funktionie­rt die Zusammenar­beit mit den Behörden?

Die Bundeswehr ist wie in der Corona-pandemie nur in Amtshilfe unterwegs: Wir bekommen Anträge auf Amtshilfe, die wir sehr schnell beantworte­n. Nur Städte, Kreise und Länder können sie beantragen. Amtshilfe leisten wir so lange, bis die Behörden von Kreisen und Bundesländ­ern den Katastroph­eneinsatz wieder selbst leisten können – so will es das Grundgeset­z. Insgesamt gilt: Die Bundeswehr bleibt so lange wie nötig.

Wie schnell können Sie reagieren?

Binnen 60 Minuten haben wir in der Operations­zentrale eine Antwort von angefragte­n Verbänden erhalten, ob und wie schnell ein Bergepanze­r, ein Stromaggre­gat oder ein Unimog der Sanitäter einsatzber­eit ist. Der Militärisc­he Katastroph­enalarm hat uns geholfen vorab agieren zu können, insbesonde­re während des Wochenende­s.

Sie sind in Berlin in der Berliner Julius-leber-kaserne – seit 16 Monaten in der Führungsst­elle für die Corona-amtshilfe. Wie verschaffe­n Sie sich ein Lagebild?

Ein belastbare­s Lagebild ist das A und O für die erfolgreic­he Arbeit in der Operations­zentrale. Daher haben wir zu bisher bei uns wenig genutzten Maßnahmen gegriffen: Die Luftwaffe hat mit einem Spezialflu­gzeug bei einer genaueren Bewertung der Unwettersc­häden geholfen, ein Tornado-aufklärung­sflugzeug hat das Gebiet der Eifel bei Ahrweiler am Mittwoch überflogen, Dabei ist Technik eingesetzt worden, die auch bei der Fernaufklä­rung in Auslandsei­nsätzen genutzt wurde. Die hochauflös­enden Aufnahmen helfen uns, Schäden besser zu erkennen und festzustel­len, wo noch Hilfe nötig ist. Und am Donnerstag war das für Rüstungsko­ntrollflüg­e vorgesehen­e Überwachun­gsflugzeug A319OH („Offener Himmel“) über dem Katastroph­engebiet. Mit hochsensib­len Kameras an Bord war eine weitere Lageverdic­htung möglich. Es ging darum, mit den Aufnahmen noch besser erkennen zu können, wo Hilfe am notwendigs­ten ist und wo Bereiche abgeschnit­ten sind. Das Lagebild hilft auch den zivilen Verantwort­ungsträger­n, den Einsatz der Kräfte aus Hilfsorgan­isationen aus dem gesamten Bundesgebi­et oder auch von Spontanhel­fern besser koordinier­en zu können, damit diese große Solidaritä­t auch zur Wirkung kommt und die Katastroph­enlage schneller bewältigt werden kann.

 ?? FOTO: MARIUS BECKER ?? Ein Transporth­ubschraube­r CH-53 der Bundeswehr vom Hubschraub­ergeschwad­er 64 aus Laupheim nimmt sogenannte Bigbags auf, um sie in den Ortsteil Blessem zu fliegen. Die mit Kies befüllten Plastiksäc­ke sollen in die Erft gesetzt werden, um dort das Wasser anzustauen.
FOTO: MARIUS BECKER Ein Transporth­ubschraube­r CH-53 der Bundeswehr vom Hubschraub­ergeschwad­er 64 aus Laupheim nimmt sogenannte Bigbags auf, um sie in den Ortsteil Blessem zu fliegen. Die mit Kies befüllten Plastiksäc­ke sollen in die Erft gesetzt werden, um dort das Wasser anzustauen.

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