Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Auftakt zur Reise ins Ungewisse
Mit einer bunten, aber leisen Eröffnungsfeier haben die Olympischen Spiele inmitten der Pandemie begonnen
(Sid/dpa) - Leise Töne, viel japanische Tradition, dazu Party und Proteste auf den Straßen: Mit einer bewegten und bewegenden Zeremonie vor ernstem Hintergrund haben in Tokio mit 364 Tagen Verspätung die 32. Olympischen Sommerspiele begonnen. Trotz aller Widrigkeiten der Corona-pandemie erklärte Japans Kaiser Naruhito das größte Sportfest der Welt um 23.14 Uhr Ortszeit für eröffnet. Angesichts der instabilen Lage im Land werden die kommenden 16 Wettkampftage mit über 11 000 Athleten und 339 Entscheidungen zur Reise ins Ungewisse.
„Heute ist ein Moment der Hoffnung“, sagte Ioc-präsident Thomas Bach in seiner Ansprache vor fast leeren Rängen im gigantischen Stadion. An der Seite des Kaisers beschwor der deutsche Herr der Ringe die olympischen Werte: „Lasst uns genießen, dass wir alle gemeinsam hier sind. Athleten aus 205 Nationen, die im Olympischen Dorf unter einem Dach leben. Das ist die vereinigende Kraft des Sports, eine Botschaft der Solidarität und des Friedens.“
Allerdings vereinte Olympia vor dem Stadion die Menschen auf ungewollte Weise. Auch wenn die Arena, in der keine „normalsterblichen“Zuschauer zugelassen waren, weiträumig abgeriegelt wurde, hatten sich Tausende Schaulustige auf engstem Raum eingefunden. Die Massen, die den Darbietungen lauschen wollten, trafen auf Dutzende Olympia-gegner, die mit Gesängen, Pfeifen und Trommeln lautstark demonstrierten. Die Polizei musste auffahren.
Davon unbeeindruckt verfolgten die rund 9000 geladenen VIPS die bald vierstündige Zeremonie im 68 000-Plätze-stadion. Corona war während der Feier stellenweise ein Thema – beginnend mit einer Schweigeminute oder in Bachs gewohnt pathetischer Rede. Nur rund 15 Staatsoberhäupter waren nach Japan gereist, darunter Frankreichs Präsident Emmanuel Macron – Paris ist 2024 nächster olympischer Gastgeber. Deutschland war mit keinem Regierungsmitglied vertreten.
Die wichtigste zeremonielle Rolle spielte ohnehin der Tenno. Naruhito führte, als er die klassische, knappe Eröffnungsformel auf Japanisch sprach, eine Familientradition fort. Großvater Hirohito hatte im alten Nationalstadion Tokios die Sommerspiele 1964 und in Sapporo 1972 die Winterspiele eröffnet, Vater Akihito 1998 die Winterspielen in Nagano. Dieses Mal fehlte allerdings das japanische Wort iwai (Feier).
Kurz nach Naruhitos Worten entzündete Tennisspielerin Naomi Osaka als letzte Staffelläuferin um 23.48 Uhr Ortszeit das olympische Feuer, das bis zum 8. August brennen wird. „Das ist zweifelsfrei mein größter sportlicher
Moment – und die größte Ehre, die ich jemals erleben werde“, schrieb Osaka bei Twitter. „Mir fehlen die Worte, um meine Gefühle angemessen zu beschreiben, aber ich spüre große Demut und Dankbarkeit.“
Anders als die meisten Spiele der vergangenen Jahre kam die Zeremonie ohne schieren Überfluss an Tänzern und Tänzerinnen, bombastischen Licht- und Soundeffekten aus. Ganz in der Tradition japanischen Theaters sprachen schlichte Bilder und intensive Gesten eine eindrucksvolle Sprache. Es war ein wohltuendes Weniger im Gegensatz zum teils leeren Mehr früherer Feiern, das die reiche japanische Tradition mit der beeindruckenden Moderne verknüpfte.
Denn es sollte auch eine Zeremonie für die Jugend der Welt sein: Während des Einmarschs der Athleten wurde Musik aus Videospiel-klassikern eingespielt, wurden grelle Hits japanischer Popstars präsentiert. Fast ganz am Ende sangen diesmal Künstler aus allen Erdteilen „Imagine“von John Lennon, zu dem auch dessen japanische Frau Yoko Ono beigetragen hatte. „And the world will live as one“– diese Hoffnung passt zu diesen Spielen.
Die deutsche Mannschaft marschierte hinter dem Fahnenträgerduo Laura Ludwig und Patrick Hausding gemäß dem japanischen Alphabet als 115. Delegation ein. Die Zeremonie war ein großer Tag für die Gleichberechtigung: Erstmals sollten nach dem Wunsch des IOC ein Mann und eine Frau gemeinsam das Nationalbanner tragen, die meisten Länder kamen dem nach. Den besonderen Moment genoss Ludwig in vollen Zügen. „Für mich ist es noch spezieller, Fahnenträger zu sein, als eine Medaille zu gewinnen, weil es viel weniger Menschen gibt, die eine Fahne tragen, als Menschen, die eine Medaille gewinnen“, sagte die 35-Jährige.
Die Abordnung des „Team D“war größer als erwartet, doch immer noch deutlich kleiner als zur Normalzeit. Angesichts der Infektionsgefahr hatte es allen freigestanden, die Feier zu besuchen. Jene, die dies taten, blieben nicht länger als nötig. Da auch andere Nationen so verfuhren – Brasilien hatte lediglich die Fahnenträger geschickt – waren weitaus weniger Athleten als gewohnt im weiten Rund. Der Rest wollte die nun beginnenden Wettkämpfe nicht zusätzlich in Gefahr bringen.