Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Hören ist das neue Sehen
Ob Hörbuch, Podcast oder Sprachsteuerung – der Trend geht zu Ohrenfreuden, obwohl in digitalen Zeiten das Visuelle doch so übermächtig erscheint
Etwa zehn Minuten braucht es, diesen Artikel zu lesen. In dieser Zeit könnte man ein Zimmer gesaugt haben oder wäre bis zum Bäcker nebenan spaziert. Stattdessen sitzt man untätig am Küchentisch, liest und trinkt vielleicht einen Kaffee. Noch mehr Zeit kostet ein ganzes Buch. Stundenlang nur dazusitzen und zu lesen, um herauszufinden, wer der Mörder ist (natürlich nicht der Gärtner, das wäre ja wohl zu offensichtlich), scheint irgendwie ineffizient. Es lässt sich schwer etwas nebenbei machen. Beim Fernsehen geht das schon besser: Junge Menschen haben während eines Films oder einer Serie meist ihr Handy in der Hand, chatten mit Freunden, scrollen durch soziale Medien oder aktuelle Nachrichten. Am besten lässt sich allerdings etwas nebenbei machen, wenn keine Bilder oder Buchstaben ablenken, sondern Medien nur gehört werden müssen.
Hören wird in unserer Multitasking-gesellschaft immer wichtiger. Wo der Fernseher lange das Radio an Beliebtheit überboten hat, kommt jetzt die Rache des Hörformats in Form von Podcasts, Audiosocial-media und Alexa. Wolfgang Schweiger, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim, sagt, das Internet werde inzwischen stark nicht nur für Video, sondern auch für Audio genutzt. Er zitiert eine Studie, nach der 2020 etwa 50 Millionen Menschen in Deutschland Online-audio-angebote gehört haben – das sind sechs Millionen mehr als noch 2019.
„Nebenbeibenutzung von Internetangeboten gab es schon immer, aber erst mit Smartphones und Kopfhörern geht das auch außerhalb des Haushalts“, erklärt er. Gut möglich, dass der Zuwachs etwas damit zu tun habe, dass gerade junge Menschen das Gefühl haben, sie müssten ihre Zeit effektiv nutzen. Von diesen würden Onlineaudioformate stärker gehört. „Aber es ist kein reines Jugendphänomen“, sagt Schweiger. Der Kommunikationswissenschaftler vermutet, dass Online-hörformate im vergangenen Jahr auch deswegen mehr genutzt wurden, weil das Zeitbudget wegen Corona ein anderes war. „Man war einfach mehr zu Hause.“
Den größten Zuwachs hatten Podcasts und Radiosendungen auf Abruf. Podcasts sind sozusagen Hörserien, in denen normalerweise mit regelmäßigen Updates etwas über ein Thema erzählt wird. Von Comedy-podcasts über Nachrichten
bis zu fiktiven Geschichten ist alles dabei. Etwa ein Drittel der Deutschen hören inzwischen laut dem Kommunikationswissenschaftler solche Formate, bei den 14- bis 29-Jährigen ist es sogar die Hälfte. Beliebteste Themen waren dabei 2020 Nachrichten, Wirtschaft und Politik. Gesundheit hatte im Corona-jahr ebenfalls großen Zuspruch. Außerdem sind Podcasts um Krimis und Kriminalfälle beliebt.
Ob kauzige Polizisten im Allgäu oder blutige Leichen in Norwegen, die deutsche „Tatort“-nation hat ein Faible dafür. Eines der bekanntesten Podcast-formate zu dem Thema ist „Mordlust“. Alle zwei Wochen erzählen die Journalistinnen Paulina Krasa und Laura Wohlers ihren Hörern die Hintergründe von wahren Kriminalfällen.
Was macht die Faszination von Podcasts aus? Für die beiden Frauen, dass man den Podcast jederzeit hören kann. Beim Autofahren, Bügeln, Kochen, Gassigehen. Das sei zwar bei Hörbüchern auch so, sagt
Krasa. „Aber zu den Moderatoren und Moderatorinnen von Podcasts baut man meist eine Bindung auf und fühlt sich ihnen nahe.“Sie sieht auch einen Vorteil zu Bildformaten. Im Fernsehen passiere so viel. „Die Special Effects werden immer krasser, man kann sich zu Hause die 3-D-brille aufsetzen, das ist ja teilweise eine absolute Reizüberflutung – Podcasts sind purer.“Ihre Kollegin Wohlers stimmt ihr zu und merkt an: „Außerdem kann man beim Hören seiner Fantasie selbst freien Lauf lassen. Das ist, glaube ich, ein großer Reiz, wenn es um Geschichten geht.“
Wo ein wachsendes Publikum ist, ist ein wachsender Markt, in den Konzerne einsteigen. Der Musikstreamingdienst Spotify produziert seit einigen Jahren verstärkt eigene Podcasts. Saruul Krause-jentsch leitet diese Produktion in Deutschland. Sie denkt, der Höhepunkt des Podcast-booms sei noch lange nicht erreicht.
Abgesehen von True-crime, also wahren Kriminalfällen, hören Spotify-nutzer laut Krause-jentsch gerne Comedy und Entertainment. Im vergangenen Jahr sind Nachrichtenpodcasts beliebter geworden, gleichzeitig Formate im Bereich „Self Improvement“wie Wellness und Meditation. Irgendwo wieder stimmig. Nach einem Corona-update brauchte es vielleicht direkt eine Meditation. Wie die „Mordlust“moderatorinnen betont Krausejentsch, dass zwischen Podcastern und Hörern eine persönliche Beziehung entsteht.
Nicht nur Effizienz zieht Menschen also zum Audio. Jemanden reden zu hören, hat etwas Beruhigendes. Gerade in chaotischen Zeiten ist Geborgenheit elementar. Junge Menschen hören Podcasts teilweise zum Einschlafen. Kindheitserinnerungen werden wach. Geschichten, die abends von den Eltern vorgelesen wurden. Irgendwie trostspendend.
Stefan Kaminski hat schon als Kind gerne Märchenplatten gehört. Er erinnert sich, wie er später „Herr der Ringe“hörte: mit gedimmtem Licht und Kerzenschein. „Es hat etwas von Einigelung und Hafen.“Jetzt ist Kaminski selbst Hörbuchsprecher. In dieser Arbeit gehe es darum, allein mit der Stimme eine Welt zu erschaffen. Diese Welten könnten teilweise unterschiedlicher nicht sein. Kaminski hat Pumuckls Schabernack vorgelesen, genauso Heinrich Heines poetische Sprache. Dafür arbeitet er mit Höhen und Tiefen in der Stimme, mit Zäsuren, Spannungen und Stille. „Mein persönlicher Anspruch ist, dem Ganzen Seele zu verleihen“, sagt er.
Während einst erfolgreiche Bücher quasi als Zweitverwertung eingesprochen wurden, kommen nun längst Hörbücher parallel mit den gedruckten Exemplaren auf den Markt. Kaminski fallen viele Gründe für den Erfolg des Hörens ein. Zum einen wieder das Multitasking: „Es hat die Möglichkeit des Nebenbei. In einer Zeit, in der vieles nebenbei laufen muss.“Außerdem die Geborgenheit, die der Hörer fühlt, und das „Kino im Kopf“, das eine vorgelesene Geschichte erzeugt.
Der Verkauf von Hörbüchern ist seit den 2000er-jahren stetig gestiegen. Allerdings nimmt er in den letzten Jahren nach Zahlen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (BVDB) wieder ab. Während die Verkaufszahlen sinken, steigt die Anzahl der Menschen, die Hörbücher hören, weiter. Zurückzuführen sei das auf Streamingangebote, heißt es aus der Pressestelle des BVDB. Dort wird die Abnahme in den Verkaufszahlen mehr als nur ausgeglichen.
Bevor ein Buch aus Lautsprechern oder Kopfhörern tönt, hat Ana Kohler vom Hörverlag in München eine Menge Arbeit. Das beginnt beim Finden des richtigen Buchs. Der Text, so die Lektorin, muss gut sein, klar, aber: Liest es sich laut gut? Und: Wie hat sich der Autor in der Vergangenheit verkauft? Versteht man alles ohne Bilder? „Man entwickelt ein Ohr dafür“, sagt sie. Letztens habe sie einen Text gelesen und direkt die Stimme einer bestimmten Sprecherin im Ohr gehabt. Wenn Text, Sprecher und Regisseur stehen, geht es ins Studio. Gute Sprecher schaffen laut Kohler etwa zweieinhalb Stunden Hörbuch an einem Tag. Der Regisseur gibt dem Sprecher Ratschläge, wo etwas zum Beispiel emotionaler klingen muss, wo eine Pause dem Text guttut. Er achtet auf technische Fehler, Nuscheln oder Magengrummeln.
Noch einmal anders ist die Arbeit bei Hörspielen. Die sind laut Kohler teurer und aufwändiger, daher übernimmt der Verlag häufig Produktionen von den öffentlichrechtlichen Sendern. Der Bayerische Rundfunk (BR) hat in München ein großes Hörspielstudio. Dort gibt es Platz, damit mehrere Schauspieler den Text zusammen vortragen können, Treppen aus Stein und aus Holz zum Auf- und Abrennen, lauter Kleinigkeiten, mit denen Geräusche erzeugt werden können. „Hörspiel ist eine sehr teure Kunst“, sagt Kohler. „Ich hoffe, sie wird uns nicht irgendwann verloren gehen.“
Literatur im Hörspiel als eigene Kunst – da setzt in Deutschland seit Jahrzehnten Klaus Buhlert die Maßstäbe. Er ist seit 1984 als Regisseur in der Branche. Für den BR vertonte er „Das Schloss“von Franz Kafka, für den SWR James Joyce’ „Ulysses“. Und Elias Canettis „Die Blendung“und Michail Bulgakovs
„Meister und Margarita“… – Klassiker, in Serie, aber umgesetzt in alles andere als Stangenware. Sein letztes Hörspiel veröffentlichte er 2020: „Die Enden der Parabel“von Thomas Pynchon ist 15 Stunden lang. Für Buhlert jahrelange Arbeit.
Die fängt für den Hörspiel-regisseur schon beim Manuskript an. Der Roman muss akustisch in seinem Kopf Gestalt annehmen, Klang, Stimmen. „Die Enden der Parabel“hat im Buch etwa 400 Figuren, Buhlert hat sie auf 90 gekürzt und mit 40 Sprechern umgesetzt – und dafür kürzlich den Deutschen Hörspielpreis erhalten. Buhlerts Hörspiele widersprechen allem, was bisher für den Audio-boom sprach. Die Literatur, die er vertont, lässt sich nicht nebenbei hören. Der Roman „Die Enden der Parabel“ist berüchtigt für seine schwer durchschaubare Handlung. Zwischen Krieg und Wahnsinn: Einen Wohlfühlfaktor hat die Geschichte ebenfalls nicht. Für Buhlert sind Hörspiele eine Kunst für sich, gleichzeitig Zugang zu Literatur, Teil des Bildungsauftrags. „Es ist dreidimensionaler als beim Lesen“, sagt er.
Vom Podcast zum Hörspiel ist es ein weites Feld – aber tatsächlich gehört noch viel mehr zum Audioboom. So war mit Clubhouse 2020 ein soziales Medium Mode, bei dem Menschen vor allem miteinander sprachen und andere ihnen zuhörten. Die Bedienung von technischen Geräten über Sprachsteuerung nimmt ebenfalls immer mehr zu. Laut Kommunikationswissenschaftler Schweiger haben inzwischen 60 Prozent der Deutschen im Alter von 16 bis 69 schon einmal eine Sprachsteuerung über das Handy oder über intelligente Lautsprecher wie Alexa verwendet.
Die zehn Minuten sind vorbei. Der Kaffee ist leer, der Boden weiterhin nicht geputzt, der Weg zum Bäcker steht noch bevor. Aber beim Lesen gilt das Gleiche wie beim Hören: Effizienz ist nicht alles.