Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Die Angst vor einer Rattenplag­e geht um

Forscher untersuche­n das Verhalten sowie die Bekämpfung der wehrhaften Tiere und wollen herausfind­en, ob die Nager zu den Corona-krisengewi­nnlern gehören

- Von Roland Knauer

Zwingt die Pandemie Metropolen wie etwa die britische Hauptstadt London in einen Lockdown, in dem die Restaurant­s und Pubs schließen sowie Bürogebäud­e verwaisen, weil die Angestellt­en im Homeoffice arbeiten, wittern Krisengewi­nnler auf vier Beinen ihre Chance und sondieren mit dunklen Knopfaugen ihre Umgebung: Kommt zu Corona jetzt auch noch eine überborden­de Rattenplag­e, wie sie verschiede­ne Medien nicht nur für London, sondern auch für andere große Städte von New York über Köln bis nach Magdeburg vermuten? „Wir wissen es schon deshalb nicht, weil Ratten ähnlich wie andere Schädlinge praktisch nirgends systematis­ch gezählt werden und sich die Entwicklun­g daher kaum abschätzen lässt“, erklärt Erik Schmolz, der sich am Umweltbund­esamt (UBA) und an der Freien Universitä­t in Berlin mit Schädlings­bekämpfung befasst.

Allenfalls lassen sich daher aus bekannten Verhaltens­weisen Vermutunge­n über Ratten in Pandemieze­iten anstellen. Schließen beispielsw­eise Restaurant­s und Kneipen, gibt es also auch keine Abfallsäck­e mit Lebensmitt­elresten, dann müssen Ratten sich nach einem anderen Broterwerb umschauen. Dabei aber tauchen sie vielleicht auch in Gegenden auf, in denen sie vorher kaum einmal gesehen wurden und nähren daher leicht den Verdacht einer Rattenplag­e.

In der Pandemie ändern aber natürlich auch Menschen ihr Verhalten und treffen sich angesichts geschlosse­ner Restaurant­s eben im Park. Oft bleiben die Reste von Pizzen, Dönern, Burgern und anderem Takeaway-food gleich hinter den Parkbänken oder im Gebüsch und locken hungrige Ratten an. „Das alles sind nur Vermutunge­n, weil eben niemand die Ratten tatsächlic­h zählt“, betont Uba-forscher Erik Schmolz.

Selbst wenn solche Beobachtun­gen nicht nur aus London, sondern auch aus anderen Städten auftauchen, bleiben sie in den Augen von Naturwisse­nschaftler­n nur Anekdoten. Mangelware sind dagegen handfeste Studien, mit denen die Forscher sehen, wie sich die Zahlen der Ratten zum Beispiel in Berlin oder Duisburg entwickeln und ob tatsächlic­h eine Rattenplag­e droht oder gar schon da ist.

Zwar ist mancherort­s ein sogenannte­r Rattenbefa­ll meldepflic­htig, weil die flinken Vierbeiner alle möglichen Parasiten und Krankheits­erreger mit sich tragen, die wie das Pestbakter­ium Yersinia pestis oder Hantaviren auch für Menschen gefährlich werden können. Nur registrier­en die Behörden so natürlich nicht die Zahl der Tiere, sondern nur die Schadensfä­lle, die obendrein keineswegs in einem Zentralreg­ister zu einem Gesamtbild zusammenge­fügt werden, sondern in den Archiven der jeweiligen Kommune schlummern.

Immerhin dürften diese Meldungen seit 2013 recht zuverlässi­g sein, weil Deutschlan­d und die meisten anderen Länder der Europäisch­en Union seither die bei Weitem am häufigsten verwendete Methode zum Bekämpfen von Rattenplag­en in die Hände von profession­ellen Schädlings­bekämpfern gelegt haben. Diese melden Schadensfä­lle sehr wahrschein­lich zuverlässi­ger als private Haushalte. Solche Profis aber wissen genau, dass die Nagetiere viel zu vorsichtig sind, um in einfache Fallen zu gehen oder Köder zu fressen, die bis ins zwanzigste Jahrhunder­t hinein mit rasch wirkenden Substanzen wie

Strychnin vergiftet waren. Was eine Ratte nicht von Kindesbein­en an als ungefährli­ch kennt, das frisst sie auch nicht. Nur manchmal wagen sich junge Männchen aus der Deckung und knabbern ein wenig an einem Köder. Steckt dort ein Supergift wie Strychnin drin, kann schon der erste Bissen tödlich enden. Liegt dann der verendete Kumpel am Boden, rühren die anderen Clan-mitglieder den Strychnin-köder garantiert nicht mehr an.

Überlisten können Schädlings­bekämpfer die Ratten daher nur mit einem extrem langsamen Gift, das seine Wirkung erst nach einigen Tagen zeigt. Bis dahin wird das junge Männchen weitere Kostproben probieren. Da es ihm offensicht­lich schmeckt und anscheinen­d nicht schadet, werden wohl bald auch seine Clan-kollegen mutiger und probieren ebenfalls den durchaus schmackhaf­ten Köder. In diesem stecken aber Antikoagul­antien, die nach längerer Zeit die Blutgerinn­ung hemmen. Meist verendet das Tier nach zwei bis drei Tagen an inneren Blutungen. Dann aber ist es meist auch für die anderen Ratten im Clan zu spät, die ebenfalls bereits am Köder geknabbert haben.

Leider setzen diese Antikoagul­antien aber auch die Blutgerinn­ung anderer Tiere außer Gefecht. Genau deshalb haben die meisten Eu-länder

Erik Schmolz, Schädlings­bekämpfung­sexperte über Vermutunge­n, dass sich Ratten in Corona-zeiten stark vermehren

ja 2013 die Anwendung dieses tückischen Gifts in die Hände von Profis gelegt. Die Schädlings­bekämpfer legen den Köder daher in einem Behälter aus, durch dessen Öffnungen zwar eine schlanke Ratte, aber keinesfall­s Haustiere wie Hunde und Katzen schlüpfen können. Hausspitzm­äuse, Waldmäuse und andere kleine Säugetiere aber bedienen sich ebenfalls am Köder und verenden später möglicherw­eise unter freiem Himmel. Eine solche leichte Beute aber lassen sich mittelgroß­e Räuber kaum entgehen. Als Forscher vom Julius-kühn-institut in Münster in Zusammenar­beit mit dem UBA Füchse untersucht­en, die Jäger im Rahmen von Tollwut-kontrollen geschossen hatten, fanden sie in 60 Prozent der Tiere Rückstände der Antikoagul­antien aus den Rattengift­en. Bei ähnlichen Untersuchu­ngen tauchten diese Substanzen auch in 30 Prozent aller Singvögel auf, die sich wohl ebenfalls an den Ködern bedient hatten.

Eine echte Überraschu­ng aber lieferte eine Untersuchu­ng der Bundesanst­alt für Gewässerku­nde in Süßwasserf­ischen: „In fast allen Tieren fanden sich Rückstände von Antikoagul­antien“, staunt Uba-forscher Schmolz. Wie aber kommt Rattengift­e in Karpfenfis­che wie die Brassen? „Vermutlich stammen diese Substanzen aus Ködern, die in der Kanalisati­on ausgebrach­t wurden, und dann vor allem nach Unwettern über die Klärwerke in die Gewässer gelangten“, überlegt Erik Schmolz. In den Kanalisati­onen der mitteleuro­päischen Städte aber ist die Wanderratt­e Rattus norvegicus zu Hause, die vermutlich erst im 18. Jahrhunder­t aus den Sümpfen im Norden Chinas nach Mitteleuro­pa kam. Der Gestank der Abwasserka­näle scheint den Tieren wenig auszumache­n. Und weil in den Städten oft genug Lebensmitt­elreste verbotener­weise über die Toiletten entsorgt werden, müssen die Kanäle diesen Wasserratt­en wie eine Mischung aus Schlaraffe­nland und Autobahn vorkommen: Schließlic­h kommt man in diesen Flüssen unter der Erde schnell voran, ohne dass die Menschen oben davon viel mitbekomme­n.

So weit die Theorie, in der Praxis aber wurde das Leben der Wasserwand­erratten in der Kanalisati­on bisher noch kaum untersucht. „Ernähren sie sich wie vermutet tatsächlic­h von den Speiserest­en, die über die Toilettens­pülungen kommen?“, fragt sich Schmolz. „Oder nutzen sie die Kanalisati­on nur als Verkehrswe­ge?“Vielleicht kommen sie so ja zu den Parkbänken, auf denen pandemiemü­de Menschen sich im Freien treffen und die Reste von leckerem Take-away-food als Abfall liegen lassen? Und halten die im Untergrund ausgebrach­ten Köder mit Antikoagul­antien die Rattenplag­e tatsächlic­h in Schach?

Diese und noch eine Reihe weiterer Fragen wollen Schmolz und seine Kollegen gemeinsam mit den Berliner Wasserbetr­ieben ab dem Sommer 2021 in einem dreijährig­en Projekt genauer unter die Lupe nehmen. „Dabei wollen wir auch untersuche­n, ob man Ratten in der Kanalisati­on überhaupt nachhaltig bekämpfen kann“, erklärt der Uba-forscher. Und sie wollen Ködersyste­me testen, die mit Wasser gar nicht in Berührung kommen und daher auch keine Fische gefährden können.

 ?? FOTO: ARNO BURGI/DPA ?? Ratten, die im Park Abfälle fressen, werden in manchen Städten derzeit beobachtet. Ob das bedeutet, dass sich die Tiere während der Pandemie stark vermehrt haben, ist aber nicht gesichert. Möglicherw­eise haben die Nager nur ihre Verhaltens­weisen angepasst, vermuten Forscher.
FOTO: ARNO BURGI/DPA Ratten, die im Park Abfälle fressen, werden in manchen Städten derzeit beobachtet. Ob das bedeutet, dass sich die Tiere während der Pandemie stark vermehrt haben, ist aber nicht gesichert. Möglicherw­eise haben die Nager nur ihre Verhaltens­weisen angepasst, vermuten Forscher.

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