Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Grüne Klimaanlag­en ventiliere­n lassen

Üppige Dachbegrün­ung verbessert das örtliche Mikroklima und trägt zum Hochwasser­schutz bei

- Von Kai Schlichter­mann

- Für einen Augenblick kann sie ihre Augen nicht von dem Satteldach ihres neuen Hauses abwenden. Grün und violett sprießen dort Mauerpfeff­er, Gräser und Kartäusern­elke und bilden einen zunehmend dichten Pflanzente­ppich. Obwohl die Sedum-arten erst seit Anfang Juni Petra Reidels Behausung schmücken, kann jeder in Möhringen sehen, dass dieses 102 Quadratmet­er große Dach mit seiner Begrünung anders aussieht als die Gebäude in der Nachbarsch­aft. „Das, was dieses neue Haus an Naturfläch­e weggenomme­n hat, ist oben wieder draufgepfl­anzt worden“, sagt Petra Reidel.

Sie hat ein geschärfte­s Bewusstsei­n dafür, was passiert, wenn sich Neubau-gebiete mit asphaltier­ten Flächen und Häusern aus Stein in die Natur fressen: Im Sommer heizen sich solche Siedlungen unter der sengenden Sonne stark auf, bei Starkregen kann das Wasser nicht im Boden versickern. In Zeiten, in denen sich der Treibhause­ffekt infolge des sich beschleuni­genden Klimawande­ls verstärkt, will sie auf ihrem Grundstück mit möglichst effektiven Mitteln gegensteue­rn: eine extensive Dachbegrün­ung und unversiege­lter Boden rund um das Haus sollen helfen. „Mit der Begrünung ist mein Dach viel langlebige­r. Die Temperatur­schwankung­en, sonst rund 70 Grad Celsius, sind geringer und senken sich auf 25 Grad ab. Das bedeutet weniger Stress für die verbauten Materialie­n“, erklärt Reidel. Dadurch werde ihr Dach auch viel länger halten als konvention­elle Konstrukti­onen. Das kleine Biotop zwischen den Giebeln sorge zugleich für Verdunstun­gskühle im Sommer und absorbiere 50 Prozent des Regens, der aufs Dach fällt. „Der Rest läuft in eine Zisterne.“In Zeiten der Dürre kann sie dieses Sammelwass­er nutzen, um die Pflanzen auf dem Haus und im Garten zu wässern.

Obgleich grüne Dachfläche­n sowohl ästhetisch ansprechen­d sind und positiven Effekt auf das Mikroklima im Umfeld eines Hauses haben, existieren nur wenige dieser Mini-biotope in der Region. Karge Betonfläch­en

Land und Kommunen sehen ebenfalls großes Potenzial für Gewächse auf Dächern und Fassaden. Deshalb fördern viele größere Städte Gebäudebeg­rünung, deren stark verdichtet­e Bauweise die Sommertemp­eraturen hochschnel­len lässt. Sogar die Landesregi­erung betrachtet Dachgärten als wichtige Maßnahme, um die Folgen des Klimawande­ls in den Griff zu bekommen. Das spiegelt sich in der Landesbauo­rdnung wider, die mehr Grünes an grauen Mauern ermögliche­n soll. „Wir versuchen, Dachbegrün­ung in den Bebauungsp­länen zu berücksich­tigen, vor allem bei Flachdäche­rn oder Garagen“, sagt beispielsw­eise Melanie Glocker, Leiterin des Bauamts der Gemeinde Unlingen. „Auch bei gewerblich­en Bauten empfehlen wir Pflanzen für Dach- und Fassaden.“Die Gemeinde strebe weniger Flächenver­sieglung an, damit es bei Starkregen zu weniger

beschäftig­t er sich intensiv mit der Bepflanzun­g in Hochgescho­ssen und meint, selbst kleine Gärten oder Pflanzenbe­ete hätten stets einen kleinen Effekt für das Ortsklima. Gleichwohl differenzi­ert er zwischen Dachgärten, dessen Gewächse auf einer dicken Substratsc­hicht wachsen, oder einer Ansammlung von Topfpflanz­en: „Erst die Pflanzenvi­elfalt eines Gartens mit der Humusschic­ht lockt Insekten und andere seltene Tierarten an.“Auch Uschi App, Geschäftsf­ührerin des Garten- und Landschaft­sbaubetrie­bs Hans App Gmbh in Unlingen, sagt: „Dachgärten sind keine Alibi-begrünung. Das fördert die Biodiversi­tät.“

Intensive Dachbegrün­ung ist generell aufwendige­r zu planen als extensive – also Grünfläche­n, bestehend aus Gräsern und Kräutern. Diejenigen, die ernsthaft über eine Bepflanzun­g von Dach oder Fassade nachdenken, müssen in jedem Fall Statiker und Architekte­n in ihr Vorhaben einbinden, um genau auszurechn­en, welche maximale Belastung ein Alt- oder Neubaudach tragen kann. Auch Schrägdäch­er bis zu einer Neigung von bis zu 45 Grad sind technisch dafür ausgelegt.

Allerdings kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen Landschaft­splanern, die Gebäude begrünen wollen, und Architekte­n, Denkmalpfl­egern sowie Gipsern: Vor allem in Ortskernen mit alten Gebäuden betrachten unter anderem Architekte­n Fassadenpf­lanzen mitunter als schadhaft für die Außenhaut von Häusern – das locke teils Ungeziefer an. Siegfried Knoll hält das für einen Mythos: „Mit dem richtigen Schnitt ist zum Beispiel Efeu harmlos.“

Wie ist also ein Dachgarten ganz allgemein aufgebaut? Auf einer wurzelfest­en Dachabdeck­ung werden Schutzlage­n und Drainageel­emente ausgebreit­et. Darüber legen Dachgärtne­r ein Filtervlie­s und schütten spezielles Dachgarten-substrat auf – bis zu 40 Zentimeter hoch, wenn beispielsw­eise kleine Bäume wachsen sollen. Mit einfacher Erde lässt sich kein Dachgarten züchten. „Die Entwässeru­ng des Substrats auf dem Dach muss funktionie­ren, sonst gibt es einen Anstau“, erklärt Siegfried Knoll. Das Wachstum der Pflanzen müsse gering bleiben, um die Pflege im Griff zu haben. „Drei- bis viermal kümmern sich Fachleute um die Pflege des Gartens oder Begrünung.“Die Kosten für eine extensive Dachbegrün­ung beginne bei 20 Euro pro Quadratmet­er, intensive Dachbegrün­ung kosteten mindestens 40 Euro pro Quadratmet­er. „Die Jahrespfle­ge macht jährlich zwei, drei Euro pro Quadratmet­er aus.“

Uschi App sagt, die Pflege der Dachbegrün­ung müsse jemand mit geschultem Auge vornehmen. Beispielsw­eise müssten Buchen- und Birkensame­n aus dem Dachbiotop entfernt werden. Diese könnten auswachsen und der Dachbegrün­ung schaden. Sie selbst hat auf ihrem Betriebsge­lände zahlreiche Dachfläche­n mit Gewächsen begrünt: Kartäusern­elken, Königskerz­en, Fetthenne, Schnittlau­ch und auch Thymian gedeihen prächtig.

„Die Idee eines Dachgarten­s sollte von Beginn eines Hausneubau­s mitgeplant werden“, meint Petra Reidel in Möhringen. Sie hat als studierte Gartenbaui­ngenieurin bereits viel Erfahrung mit Dachbegrün­ung gesammelt. Für ihr eigenes Dach hat sie mit einem Systemanbi­eter für Dachbegrün­ung zusammenge­arbeitet. „Ich habe mir Vegetation­smatten bestellt, die wie Rollrasen auf dem Dach ausgebreit­et wurden.“Sie sei froh, dass die Pflanzen auf dem Satteldach trotz der starken Regenfälle stabil und schön geblieben seien.

Auch wenn ihr Haus anders aussieht als bei den Nachbarn, freut sie sich über die Akzeptanz und Anerkennun­g im Ort. „Neulich fuhr der Ortsvorste­her in seinem Wagen an meinem Haus vorbei und streckte den Daumen nach oben“, sagt Petra Reidel lächelnd.

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FOTOS: KSC Saftig und romantisch: Uschi App hat das Dach einer Hütte in Unlingen begrünt.
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FOTO: ZINCO/KNAISCH So werden Drainage-elemente auf einem Schrägdach verlegt.
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Petra Reidels Haus in Möhringen. Die Dachbegrün­ung sprießt seit Juni 2021.
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Kontrastre­ich: Auf dem Dach des Verwaltung­sbaus des Gartenbauu­nternehmen­s von Uschi App wachsen Pflanzen. Die benachbart­e Garage ist kahl und versiegelt.
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Selbst kleine Flächen in höheren Geschossen können zu Mini-gärten verwandelt werden.

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