Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Kein Durchschlupf für den Wolf
Im Schwarzwald gibt es seit einem Jahr spezielle Förderungen für wolfssichere Zäune – Ob sich damit aber tatsächlich alle Probleme mit den Raubtieren klären lassen, ist ungewiss
- Eine Wiese zwischen den Ausläufern der tief im Tal liegenden Schwarzwaldstadt Schramberg und den ersten Fichten eines Forstgebiets. Fingerhut blüht, Bienen summen. In nahen Gartenund Obstbaumgrundstücken schauen ältere Hobbygärtner nach dem Rechten. Alles ist friedlich. „Dass hier der Wolf zuschlägt, hätte ich zuletzt gedacht“, sagt dann auch Schafhalter Manuel Schwaibold.
Aber es war so. Gleich an zwei Tagen Ende Mai schaute ein solches Raubtier vorbei. Schwaibold hatte 20 Schafe auf der Wiese. Drei davon überlebten die Wolfsangriffe nicht. Das Beispiel weist auf Schwierigkeiten bei einem als zukunftsträchtig empfundenen Programm hin. Dieses nennt sich Fördergebiet Wolfsprävention. Über 8800 Quadratkilometer Schwarzwald sind im Juli 2020 dazu ernannt worden.
Der Grundgedanke des Programms: Das Land bezahlt unter anderem wolfssichere Zäune, Arbeitskosten für deren Bau und bezuschusst weitere Herdenschutzmaßnahmen, etwa den Einsatz von Hunden. Gegenwärtig ist die Hilfe auf Schaf- und Ziegenhalter sowie die Besitzer von Gehegewild begrenzt. Aber Weiterungen für Bauern mit Rindern sind angedacht.
Letztlich soll ein Wolf gar nicht mehr an Nutztiere herankommen können. Konflikte fielen dann aus und die Akzeptanz der Raubtiere in der Bevölkerung würde steigen, hofft das zuständige Umweltministerium in Stuttgart. „Es gelingt uns, das Nebeneinander von Landwirtschaft und Wolf gut zu managen“, ergänzt Ralf Heineken, Sprecher der grün geführten Behörde.
Eigentlich ist die Teilnahme am Programm freiwillig. Um dennoch ein Mitmachen nahezulegen, gilt aber nach einer einjährigen Übergangsfrist: Künftig bekommt Entschädigungen nur noch jener, der seine Tiere entsprechend gesichert hat. Ab August wird es deshalb ernst mit den Zäunen oder Herdenschutzhunden. Dies klingt erst einmal simpel. Ist es aber nicht. Siehe Schwaibold.
Der kräftig gebaute Mann verdient seinen Lebensunterhalt vor allem als Schreiner. Daneben hält er sich als Liebhaberei Schafe und Ziegen. Jeweils 35 Exemplare beider Arten tummeln sich bei ihm winters im Stall, ansonsten auf Schwarzwaldweiden. Der Nachwuchs ist oft von Hand aufgezogen. Schwaibold kann als einer der vielen typischen Nebenerwerbstierhalter bezeichnet werden – und ist damit weit weg von professionellen Schäfern, die oft mit Hunderten von Tieren durch die Gegend ziehen.
Dies hat zur Folge, dass seine Zeit für die Schafe oder Ziegen begrenzt ist. Rund um die Uhr behüten geht gar nicht. Ebenso wenig sind regelmäßige Nachtwachen drin. Schließlich muss er tagsüber als Schreiner arbeiten. Ein weiterer entscheidender Punkt betrifft die Art der Weidehaltung: Schwaibold verteilt die Herde auf verschiedene kleinere Wiesen, fremde Flächen, auf denen seine Tiere als Gäste grasen. Ein paar davon hier, ein paar dort. Selbst bei ausreichend Zeit wäre eine Totalüberwachung unmöglich.
Ihm bleibt also nur die Möglichkeit, immer wieder nach dem Rechten zu sehen. Auf einer solchen Tour hat er zuerst ein totes Schaf entdeckt, am nächsten Tag die zwei weiteren Opfer. „Da ist man erst einmal geschockt“, erzählt Schwaibold. Die Gefühlslage wird in seinem Fall noch intensiver, weil die Familie durchaus eine persönliche Beziehung zu den Tieren hat – gerade weil ihre Zahl überschaubar ist. Schwaibolds Frau Anna berichtet: „Die Kinder waren ziemlich traurig, als sie von den toten Schafen erfuhren.“Der Nachwuchs ist eher noch im Kuschelalter. Zwei Kinder sind im Kindergarten, eines ist jünger. Winters haben sie die Wolfsopfer womöglich noch im heimischen Stall gestreichelt.
Wobei weder der Vater noch seine Familie vegetarisch orientiert sind. In einem entsprechenden Alter kommen die Schafe zum Metzger. Das Fleisch wird verkauft. Aber das sei ganz was anderes, als wenn die Tiere vom Wolf gejagt und totgebissen würden, meint Schwaibold. „Die müssen dann elendig leiden“, berichtet er und zeigt, wo die toten Schafe lagen. Eins davon starb gleich hinter einer Bank für Wanderer.
Der Rest der Herde sei seitdem durch den Wind. „Die Tiere“, sagt Schwaibold, „sind völlig verstört und wollen nicht mehr auf die Weide.“Was das Geschäft für ihn nicht einfacher macht, sondern den Aufwand steigert. Dabei seien daheim vor dem Zwischenfall sogar Attacken durch Wölfe ein Thema gewesen, wenn auch nicht mit Blick auf die stadtnahe Schramberger Wiese: „Abseits davon haben sich meine Frau und ich noch gefragt, ist gerade einer irgendwo in der Region unterwegs?“
Eine wirkliche Überraschung sind Wolfrisse nicht mehr. 2015 ist das erste dieser Raubtiere nach 200 Jahren wieder im Schwarzwald und der angrenzenden Baar aufgetaucht. Die Gegend gilt längst als Wolfsland – auch wenn gegenwärtig gerade mal zwei Rüden als feste Bewohner ausgemacht sind. Weitere Tiere ziehen jedoch durch – wie vermutlich jener Wolf, der über Schwaibolds Schafe herfiel. Den Rissen entnommene Genanalysen weisen auf einen Neuankömmling aus dem alpinen oder norditalienischen Bereich hin.
Vorher hatten bereits die beiden ansässig gewordenen Wölfe zugebissen: heuer in vier Fällen. Betroffen: eine Handvoll Tiere. Die bisher schwerste Attacke geschah aber im April 2018 bei Bad Wildbad im Nordschwarzwald. Nächtens drang ein Wolf in eine Herde aus rund 150 Schafen ein. Die Tiere waren bloß auf drei Seiten eingezäunt gewesen, weil auf der vierten Seite ein Fluss lag – eine natürliche Barriere für Schafe. Nicht aber für den Wolf. Er kam wohl durchs Wasser. Rund 30 Schafe starben durch Bisse oder ertranken in panischer Flucht. Etwa zehn Tiere verletzte der Wolf so schwer, dass sie eingeschläfert werden mussten. Diese Nutztier-katastrophe war einer der Gründe, weshalb das Land mehr tun wollte, als Entschädigungen aus einem Wolfsfonds auszuzahlen. Mit dem Programm Fördergebiet Wolfsprävention reagiert es ambitioniert. Der Griff in die Landesschatulle ist tief – zumal im Odenwald noch ein zweites Fördergebiet existiert. Dafür ist das Lob vonseiten der Wolfsförderer groß.
Speziell die bezahlten Zäune aus dem Programm haben es ihnen angetan. „Eine möglichst rasche und flächendeckende Umsetzung ist wichtig, damit es bei den Wölfen nicht zu Lerneffekten kommt und sich diese nicht auf Weidetiere spezialisieren können“, sagt Dominic Hahn, Referent beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, kurz BUND genannt.
Alles richtig, meint auch Schwaibold mit Blick auf das Wohl seiner
Schafe und Ziegen. Ihn treiben eher Zweifel um, ob das Programm jeder Widrigkeit der Wirklichkeit gewachsen ist. Zur folgenden Erklärung seiner Bedenken bleibt er bei der Wolfsriss-wiese am Elektrozaun stehen. Der ist 90 Zentimeter hoch. Die Spannung liegt bei über 4000 Volt. „Der Grundschutz“, lauten seine Worte. Höhe und Spannung erfüllen also den amtlichen Mindeststandard zur Wolfsabwehr. Er wird noch für Entschädigungen anerkannt – momentan. Man bewegt sich aber eben nur an der unteren Grenze.
Solche nach heutiger Definition bescheidenen Sperrwerke existieren im Schwarzwald zuhauf – fest installiert wie frei versetzbar. In der Gesamtheit geht es um zig Kilometer an Zäunen. Eine Ad-hocaufrüstung erscheint deshalb schwierig. Wobei jener Zaun an der Wolfsriss-wiese noch nicht einmal Schwaibold gehört. Grundbesitzer ist die Stadt Schramberg. Sie hat den Zaun vor vier Jahren in Auftrag gegeben. Vom Aufbau her völlig ausreichend, war die damalige Ansicht. Aktuell empfiehlt das behördliche Regelwerk aber für eine Wolfssicherheit bereits
120 Zentimeter hohe Elektrozäune.
Schwaibold blieb jedoch bloß das Vorhandene: zwar grenzwertig, aber gut in Schuss. Nichts, was die Stadt einfach so entfernt. Er hat nach seinen Worten zusätzlich darauf geachtet, dass der Strom in den Drähten gut fließt. Wozu das untere Zaunende freigemäht werden muss. Ein zeitaufwendiges Geschäft. Muss jedoch sein. Wächst nämlich Gras in die Drähte, fällt die Spannung ab.
Aber beim Zäunen taucht im Bergland eine weitere Crux auf: die Topografie. Hierzu ein Blick auf das obere Ende der Wiese am Waldtrauf. Der Boden ist alles andere als eben. Gräben ziehen sich unterm Zaun durch. Nicht überall ist er so aufwendig verankert worden, um jeden Winkel abzudichten. „Ich gehe davon aus, dass sich der Wolf unten durchgezwängt hat“, berichtet Schwaibold.
Wolfsforscher kennen dies. Demnach versuchen die Raubtiere erst einmal generell, entweder durchzuschlupfen oder sich durchzugraben. Aber dass dies ausgerechnet in der Nähe der ersten Häuser geschah? An einem Weg, der oft von Menschen begangen wird? In diesem Winkel hat auch die Stadt Schramberg das Wolfsrisiko laut örtlicher Berichterstattung als vernachlässigbar eingeschätzt.
Die Kommune nutzt Schwaibolds grasende Tiere recht klassisch – nämlich zum Freihalten von Flächen, praktisch als ökologische Rasenmäher. So etwas geschieht oft im Schwarzwald. Die Schafe dienen dem Landschaftsschutz. Wichtig für den Schwarzwald, denn seinen Tälern droht ein weiteres Zuwuchern, weil vor allem steilere Wiesen für die moderne Landwirtschaft uninteressant geworden sind. Diese lässt sie zunehmend ungenutzt.
„Das Beweiden solcher Flächen ist damit kein Selbstzweck von Schafhaltern. Es dient der Artenvielfalt und damit der Umwelt“, attestiert Kim Ebinger vom Landschaftsentwicklungsverband Mittlerer Schwarzwald. Grundsätzlich findet sie deswegen das Programm Fördergebiet Wolfsprävention auch gut. Nach ihrer Erfahrung wird es von Betroffenen „gut angenommen“. Ähnliches ist von anderer Seite zu hören, etwa vom Umweltministerium. „Aber“, betont Ebinger, „das Zäunen über Stock und Stein, über Bäche, Täler und Schluchten ist eben schwer – oder manchmal unmöglich.“
Ein fast schon extremes Beispiel liegt vis-à-vis der Wolfsriss-wiese auf der anderen Talseite. Unten sind die Häuser der Stadt. Oben auf dem Berg thront die Burgruine Hohenschramberg, ein beliebtes Ausflugsziel. Dazwischen sind in einem Steilstück Gebüsch, Felsstreifen und Wiesen. Sie sollen laut städtischem Auftrag ebenso von Schwaibolds Schafen abgegrast werden. „Dort gibt es auch einen elektrischen Festzaun, aber nicht überall. Das geht gar nicht. Fürs Freischneiden habe ich mich schon mal anseilen müssen“, erzählt er.
Beim Blick hinüber glaubt man ihm dies gerne. Herdenschutzhunde könnten vielleicht die Alternative zum Zaun sein. Darauf angesprochen, muss Schwaibold schmunzeln. Er erinnert daran, dass seine Tiere auf verschiedenen Flächen verteilt seien: „Für jede der Herden wären zwei Hunde nötig. Die brauchen etwas zum Fressen. Winters wären sie im Zwinger beim Haus.“Das sei für ihn ein Aufwand jenseits von Gut und Böse.
Zudem, schätzt er, könnten Herdenschutzhunde Spaziergänger mit Schoßhunden angehen. Immerhin seien solche Fälle aus den Alpen bekannt. Und nächtliches Gebell würde den Schrambergern wohl auch nicht gefallen. Womit Schwaibold wohl recht hat. Was bleibt aber, wenn Zäunen nur bedingt möglich ist und Herdenschutzhunde nicht infrage kommen? „Es muss möglich sein, gewisse Landstriche wolfsfrei zu halten“, sagt Eugen Haberer, Obmann des für Schramberg zuständigen Kreisbauernverbandes Rottweil. Ansonsten, fürchtet er, würde die Weidehaltung im Schwarzwald größtenteils verschwinden – selbst jene von größeren Nutztieren wie Rindern.
Was Haberer will, ist letztlich der Abschuss einzelner Wölfe – oder wenigstens deren Abtransport sonst wohin. Praktisch ein Konsens in den Bauernverbänden. Auch Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner hat kürzlich einen solchen Vorstoß gemacht. Sie nennt es „regionales Bestandsmanagement“. Vertretbar bei bundesweit weit über 1000 Wölfen, glaubt die Cdu-politikerin. Baden-württembergs grüner Umweltministerin Thekla Walker geht dies zu weit. Immerhin verlautbart sie: „Wenn ein Wolf zu nahe kommt oder ein problematisches Verhalten an den Tag legt, dann muss man den auch entnehmen und dazu sind wir dann grundsätzlich auch bereit.“
Ökoverbände wie der BUND kommen lieber zurück auf die Zäune. Nach ihren Beobachtungen hat es „in Baden-württemberg bislang keine Nutztierrisse auf Weiden gegeben, an denen der wolfsabweisende Grundschutz installiert war.“Die in Freiburg beheimatete Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt des Landes bestätigt dies und ergänzt: „Sobald die Zäune angepasst worden sind, fanden keine weiteren Übergriffe statt.“
Wie aber aus dem Bereich des Schwarzwälder Fördergebiets Wolfsprävention zu hören ist, gibt es gegenwärtig Probleme, überhaupt den richtigen Schutz zu bekommen. Die Nachfrage sei zu groß. Schwaibold fragt sich indes einmal mehr, wie er in jenen Lagen zäunen soll, wo es die Natur eigentlich nicht möglich macht: „Durch die Schlucht? Über den Fels? Ein Wahnsinn.“
Der Wolf im Südwesten auf www.schwaebische.de/wolf