Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Tunesischer Präsident zieht alle Macht an sich
Regierungschef abgesetzt – Soldaten umstellen das Parlament – Kritiker sprechen von Staatsstreich
(dpa) - Es könnte die schwerste Bewährungsprobe seit 2011 für die junge Demokratie Tunesien werden: Präsident Kais Saied hat in einem umstrittenen Schritt Regierungschef Hichem Mechichi abgesetzt, die Arbeit des Parlaments für zunächst 30 Tage eingefroren und die Immunität aller Abgeordneten aufgehoben. Die Amtsgeschäfte werde er mit einem zu bestimmenden Nachfolger Mechichis führen, kündigte Saied nach einer Krisensitzung mit Militärvertretern am Sonntagabend an. Während der frühere Juraprofessor Saied versicherte, im Rahmen der Verfassung zu handeln, sprechen Kritiker von einem Staatsstreich.
In dem kleinen Mittelmeerland liefert sich Saied seit Monaten einen Machtkampf mit der islamisch-konservativen Ennahda-partei. Diese ist stärkste Kraft im Parlament, in breiten Teilen der Bevölkerung aber unbeliebt. Saied streitet mit dem nun abgesetzten Mechichi sowie mit Parlamentspräsident und Ennahdachef Rached Ghannouchi darüber, wie die Macht zwischen Präsident, Regierung und Parlament verteilt werden soll. Zuvor hatte Saied etwa die Ernennung von Ministern blockiert und angedeutet, dass er seine Macht ausbauen will.
Der überraschende Zug Saieds trieb seine Unterstützer in der Nacht zu Jubelfeiern auf die Straße. Sie zündeten laut Augenzeugen Leuchtfeuer und Feuerwerk, hupten in Autos, schwenkten Fahnen und sangen die Nationalhymne.
Wie sich die Lage weiter entwickelt, bleibt abzuwarten. Am Montag schien Saied die Übernahme der Regierungsgeschäfte mit Hilfe des Militärs sichern zu wollen. Soldaten umstellten das Parlament sowie Gebäude der Regierung und des Staatsfernsehens in der Hauptstadt Tunis. Dort räumte die Polizei auch das Büro des Tv-senders Al-dschasira ohne Durchsuchungsbefehl, wie der Sender berichtete. Dem von Katar finanzierten Nachrichtenkanal wird vorgeworfen, Islamisten zu viel Raum zu geben. Der 63-jährige Saied entließ am Montag auch den Verteidigungsund die Justizministerin.
Das Parlamentsgebäude in Tunis wurde noch am Abend geschlossen und von Sicherheitskräften umstellt. Diese hielten in der Nacht auch Parlamentspräsident Ghannouchi davon ab, das Gebäude zu betreten. Aufgebrachte Demonstranten und Ennahda-anhänger zogen am Montag dorthin, forderten Zugang und eine „Umkehrung des Staatsstreichs“. Einige versuchten, über das Tor zu klettern, hinter dem ein gepanzertes Militärfahrzeug geparkt war. Laut Augenzeugen kam es auch zu Rangeleien zwischen Demonstranten und Unterstützern Saieds. Teils gab es Berichte über Angriffe auf Parteibüros der Ennahda.
Tunesien hat als einziges Land in der Region nach den Aufständen von 2011, bei denen Langzeitherrscher Zine El Abidine Ben Ali gestürzt wurde, den Übergang zur Demokratie geschafft. Seitdem gab es aber mehr als zehn Regierungswechsel und das Misstrauen gegenüber der Politik ist groß. Tausende Menschen demonstrierten gegen hohe Arbeitslosigkeit und die immer noch verbreitete Korruption.