Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Mehr Freiheiten für Geimpfte
Es ist schon nachvollziehbar, dass Politiker, die eine Bundestagswahl in Sichtweite haben, ungern über eine Impfpflicht sprechen. Das Thema ist so heikel, dass eine allzu klare Positionierung auch Wählerstimmen kosten könnte. Es sind ja nicht nur sogenannte Querdenker, die impfskeptisch sind. Auch Menschen aus der Mitte der Gesellschaft räumen ein, mehr Angst vor den Folgen einer Corona-impfung zu haben als vor Covid-19 selbst. Ihnen ganz klar zu sagen, dass ihr Verhalten unsolidarisch ist, würde ein Maß an Mut erfordern, das in der Politik selten ist. Zudem wäre es eine Abkehr von dem Versprechen, es werde in Deutschland keine Impfpflicht geben. Auch mit dieser Aussage war Gesundheitsminister Jens Spahn vielleicht zu voreilig.
Fakt ist aber auch: Die Politik mag vor dem Begriff Impfpflicht zurückschrecken, in der Praxis werden sich die Dinge anders regeln. In einigen Wochen, wenn alle ein Impfangebot hatten, müssen Geimpfte mehr Freiheiten haben als Ungeimpfte. Alles andere wäre widersinnig. Warum sollten für doppelt Geimpfte, die in der Regel nicht mehr ansteckend sind, weiterhin Auflagen gelten, wenn sie ins Gasthaus oder in ein Konzert wollen? Es ist auch nicht unfair, dass diejenigen, die freiwillig auf das Vakzin verzichten, anders behandelt werden. Es muss so sein. Schließlich bezahlt die gesamte Gesellschaft den Preis dafür, sollte es im Herbst zu einer weiteren Corona-welle kommen. Vor allem für Kinder und Jugendliche, die schon so lange auf eine gewisse Schulnormalität warten, wären die Folgen dramatisch.
Neu ist die Erkenntnis nicht, dass die Corona-pandemie nur überwunden werden kann, wenn sich alle, bei denen es aus medizinischen Gründen möglich ist, impfen lassen. Derzeit sieht es aber nicht danach aus, als würde die Impfquote während des Sommers einen Riesensprung machen – auch weil die Anreize fehlen. Bis zum Wahltag am 26. September wird die Politik, trotz der Aufgabe, die Bevölkerung zu schützen, die Augen davor verschließen. Ein Umdenken danach könnte aber zu spät sein, um die nächste Welle aufzuhalten.