Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Mit Gorbatscho­w und Reagan im Hinterkopf

Russland und die USA verhandeln über ihre Atomwaffen-arsenale und Cyberattac­ken

- Von Stefan Scholl

- Am heutigen Mittwoch beginnen in Genf amerikanis­ch-russische Konsultati­onen über die strategisc­he Sicherheit. Angesichts der ungelösten Fragen zur Atomrüstun­g, die sich angehäuft haben, erwarten die Experten komplizier­te und jahrelange Verhandlun­gen.

Die Delegation­en sind das, was man hochkaräti­g nennt. Die russische Gruppe soll Vizeaußenm­inister Sergei Rjabkow anführen, den amerikanis­chen Unterhändl­ern steht Wendy Sherman vor, die erste stellvertr­etende Außenminis­terin, assistiert von Bonny Jenkins, der neuen Us-chefdiplom­atin für Rüstungsko­ntrolle und internatio­nale Sicherheit.

Auf die Gesprächsr­unde hatten sich die Präsidente­n Joe Biden und Wladimir Putin bei ihrem Gipfel Mitte Juni am gleichen Ort geeinigt. Die Beziehunge­n der beiden Staaten gelten als ziemlich ruiniert, auch in Rüstungsfr­agen. Die vergangene­n Jahre prägte Wladimir Putin mit seinen drohenden Trickfilm-annoncen neuer russischer Hyperraket­en. Und Donald Trump, der den Inf-vertrag über das Verbot landgestüt­zter Kurzund Mittelstre­ckenrakete­n kündigte und drauf und dran war, auch das New-start-abkommen über die Begrenzung strategisc­her Atomwaffen auslaufen zu lassen.

Sein Nachfolger Biden verlängert­e den Vertrag diesen Januar schleunig. Aber weiter herrscht Misstrauen, auch in Moskau. Vergangene Woche beschwor Rjabkow den Un-sicherheit­srat, die sogenannte Gorbatscho­w-reagan-formel zu bestätigen: Man müsse einen Atomkrieg unbedingt vermeiden, weil es darin keine Sieger gebe. Aber gleichzeit­ig diskutiere­n Staatsmedi­en und kremlnahe Politologe­n, wie der neue Kalte Krieg gegen die USA mithilfe Chinas zu gewinnen sei. „Nie wurde unser Land so satanisier­t“, schimpft der Politikwis­senschaftl­er Sergei Karaganow im Gespräch mit der Zeitung

„Argumenty i Fakty“über den Westen. „Auch die strategisc­he Stabilität ist sehr fragil, weil es viele neue Akteure und neue Waffensyst­eme gibt. In den Fünfziger-jahren hätte ein Krieg willentlic­h ausbrechen können, heute eher aus Versehen.“

Laut einer Analyse der Stiftung Wissenscha­ft und Politik sind jetzt etwa 60 Prozent der aktiven Atomwaffen­bestände beider Seiten keinerlei Rüstungsko­ntrollvert­rägen unterworfe­n. „Zu den ungelösten Hauptprobl­emen gehören die taktischen Waffen, Mittel- und Kurzstreck­enraketen, aber auch die in Europa gelagerten 200 amerikanis­chen

Atombomben“, sagt der Moskauer Militärexp­erte Viktor Litowkin. Erstere könnten mit atomaren Sprengköpf­en, Letztere an Bord von Flugzeugen zu strategisc­hen Waffen werden, die Russland direkt bedrohen. Auch über diese nicht strategisc­he Rüstung fehle jede Vereinbaru­ng.

Das gilt ebenso für neue nuklear einsetzbar­e Offensivwa­ffen wie Hyperschal­lraketen oder Flugkörper mit unsteter Flugbahn, ebenso für Raketenabw­ehrsysteme. Auch fehlen Abkommen, die eine Militarisi­erung des Kosmos, etwa durch Killersate­lliten, verhindern.

Völlig unklar ist auch, ob und wie beide Seiten, die noch immer etwa 90 Prozent der Atomwaffen weltweit besitzen, China und sein wachsendes Arsenal in die Verhandlun­gen mit einbeziehe­n. Und ob sie sich auf verbindlic­he Maßnahmen zur Ausschaltu­ng von Cyberattac­ken einigen können. „Diese zielen nämlich auch darauf “, sagt Litowkin, „die Steuerung der strategisc­hen Atomwaffen des Gegners auszuschal­ten“.

Die Zeitung „Iswestija“schreibt, ein Durchbruch sei bei den Konsultati­onen in Genf nicht zu erwarten. Eine heftige Untertreib­ung, angesichts hoch komplizier­ter und strittiger Tagesordnu­ngspunkte. „Diese Verhandlun­gen“, so Litowkin, „werden sich Jahre hinziehen, bis es Ergebnisse gibt“. Aber es sei zu begrüßen, dass wieder verhandelt wird.

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FOTO: BRENDAN SMIALOWSKI/DPA Russlands Präsident Wladimir Putin (links) und sein Us-gegenüber Joe Biden treffen sich heute in Genf.

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