Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Don Giovanni fährt ganz in Weiß zur Hölle
Regisseur Castellucci verzettelt sich bei Salzburger Opernpremiere in Details – Dirigent Currentzis lotet die Extreme im Leisen und Langsamen aus
- Die Kirchenbänke werden herausgefahren, die Heiligenstatuen mit dem Gabelstapler abtransportiert. Kaum ist der Tabernakel mit dem Allerheiligsten verschwunden, setzt die Ouvertüre ein mit den wuchtigen Akkordschlägen in dmoll, die der Pauker mit Holzschlägeln härtet. Dann kreuzt ein Ziegenbock die Bühne, und der ehemals sakrale Raum ist endgültig entweiht. Der „Don Giovanni“von Dirigent Teodor Currentzis und Regisseur Romeo Castellucci bei den Salzburger Festspielen kann beginnen.
Doch der epische, vier Stunden lange Abend stellt mehr Fragen, als er Antworten gibt. Castellucci geht es um den Don-juan-mythos, um das Hinterfragen von Klischees, um das Nachdenken über den Moment. In Teodor Currentzis hat er einen musikalischen Partner auf Augenhöhe, der an diesem Abend mit seinem Ensemble musicaeterna die Extreme besonders im Leisen und Langsamen sucht, der die Arien aussingen und modellieren lässt und der immer wieder mit den an der Hörbarkeitsgrenze musizierenden Streichern die Zeit anhält und die Musik zum Schweben bringt.
Der Humor ist an diesem schwergewichtigen, aber auch bedeutungsschwangeren Abend leider ganz getilgt. Das macht die außergewöhnliche Produktion immer wieder zäh und unnahbar, zumal ein Gazevorhang die gesamte Szenerie in mildes Licht taucht. Gesichter sind keine zu erkennen. Ein Weichzeichner liegt den ganzen Abend auf Castelluccis ästhetischen Bildern. Im ersten Akt scheut der Regisseur keinen Aufwand.
Vor Leporellos Auftrittsarie „Notte e giorno faticar“(Keine Ruh bei Tag und Nacht) kracht eine dunkle Limousine auf die Bühne, um die Profanierung der Kirche mit einem Knalleffekt zu untermauern. Auch ein Konzertflügel zerschmettert am Boden, auf dem Don Giovanni wie ein Kind weiterklimpert.
Aber auch in der Personenregie setzt Castellucci Akzente. Als Donna Anna, der die großartige, in der Höhe traumwandlerisch sichere Nadezhda Pavlova gleichermaßen Fragilität und Stärke verleiht, zitternd von Don Giovannis Übergriff erzählt, wird die Szene von zwei Doubles anders nachgespielt, nämlich mit Donna Anna als treibender Kraft. Als Donna Elvira – Federica Lombardi verleiht ihr neben der notwendigen Dramatik auch eine ganz nach innen gerichtete, dunkle Klanglichkeit – Don Giovanni das erste Mal zur Rede stellt, krabbelt ein Kind aus dem Sofa und läuft auf den mutmaßlichen Vater zu, der vor seinem Sohn nur flüchten kann.
Verantwortung zu übernehmen scheut sich dieser Don Giovanni (Davide Luciano), der in Leporello (in der Tiefe zu wenig: Vito Priante) einen Doppelgänger hat. Er genießt den Augenblick wie beim erotisch aufgeladenen Zusammensein mit Zerlina (Anna Lucia Richter). Die Champagner-arie singt Luciano wie im Rausch bei hochgefahrenem Orchestergraben. Das musikalische Feuerwerk zündet Teodor Currentzis mit einem hier erhitzten Tempo und markanten Akzenten.
Michael Spyres ist als Don Ottavio ein ganz lyrischer Tenor mit wunderbarem Legato, der aber trotz edler Stimme, wechselnden Kostümen und zwei affig frisierten Pudeln die angebetete Donna Anna nicht beeindrucken kann. Auch Masetto (David Steffens) bleibt ungeliebt. Im Gegensatz zu seiner magischen Salzburger „Salome“-inszenierung von 2018 entfalten Castelluccis Bildwelten nicht die gleiche Suggestionskraft. Der Italiener verzettelt sich im Detail. Auch die vielen Pausen und extrem gedehnten Rezitative hemmen den Fluss.
Nach der Pause lässt der Regisseur die Frauen, die in der Registerarie nur als anonyme Masse benannt werden, auf die Bühne kommen. Allein durch ihre Anwesenheit stärken diese hundert Salzburgerinnen Donna Elvira den Rücken. In der Choreographie von Cindy Van Acker bewegen sie sich mal in weißen bis rosafarbenen Kostümen, mal in Dessous fließend über die Bühne und formieren sich zu verschiedenen Gruppen. In der Friedhofsszene bilden sie die Gräber. Der Komtur ist hier nur als Stimme (Mika Kares) zu erleben. Bei der Höllenfahrt bleibt Don Giovanni alleine, Leporello steht erstmals vor dem Gazevorhang.
Für den Todeskampf reißt sich Don Giovanni die Kleider vom Leibe und wälzt sich nackt in grauem Schlamm – die erschütterndste Szene des Abends. Als das Leben der anderen in der Scena ultima weitergeht, ist nichts mehr, wie es wahr. Den Schlusschor „Questo è il fin di chi fa mal“(So endet, wer Böses tut) lassen Teodor Currentzis mit seinem musicaeterna Orchester und Chor bersten vor Vitalität. Aber die Überlebenden wirken leblos. Jeder geht seiner Wege. Einsam sind auch sie.