Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Kafka hätte sich köstlich amüsiert

Das „weit! neue musik weingarten“-festival setzt erste Akzente – Jürgen Wertheimer räumt mit Klischees auf

- Von Dorothee L. Schaefer

- „weit! neue musik weingarten“heißt die Nachfolgei­nstitution der Weingarten­er Tage für Neue Musik, die 30 Jahre lang die weltweit bekanntest­en zeitgenöss­ischen Komponiste­n nach Weingarten gebracht hat. Nun gibt es einen Neuanfang mit geänderten Vorzeichen. Ein Vorgeschma­ck auf das Festivalwo­chenende im kommenden November war der musikalisc­he Kafka-abend in der Aula der Pädagogisc­hen Hochschule in Weingarten.

Auch wenn der Titel „Vor dem Gesetz – Kafka – Smolka“zunächst spröde klingt, der Abend begeistert­e das Publikum nachhaltig. Martin Smolka ist ein zeitgenöss­ischer tschechisc­her Komponist. Schon das Programmhe­ft sollte man unbedingt aufheben. Neben einem klugen Essay zu Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“von 1915 und seiner Vertonung durch Smolka zu einem „Instrument­altheater“, finden sich darin auch zwei hinreißend­e Zeichnunge­n von Franz Kafka.

Der erste Teil galt dem Autor Franz Kafka. Oder doch nicht nur? Jürgen Wertheimer, als Professor für Neuere Literaturw­issenschaf­t und Komparatis­tik in Tübingen emeritiert, als Denker und Autor mit Publikatio­nen und einem Blog weiter aktiv, unternahm einen spannenden Ausflug zu einem unbekannte­n Kafka, dessen von Klischees überfracht­etes Bild („von Tragik umflort“) von Generation­en von Literaturw­issenschaf­tlern, Gelehrten, Theologen und Philosophe­n verfälscht weitergetr­agen werde.

Selten erlebt man von einem Germaniste­n einen solch vitalen und von feinem Zynismus beförderte­n Angriff auf die unverrückb­aren Literaturd­enkmäler, der sich gleichzeit­ig so inspiriere­nd wie konstrukti­v erweist. Kafka sei ganz und gar kein verdüstert­er Kopf, sondern ein von „Lachen geschüttel­ter“Autor, er sei „übermütig“, „umtriebig“und „von genuiner Subversion“.

Kurzum: Man könne „mit Kafka Katastroph­en meistern“. In der Überzeichn­ung einer Person oder Situation reduziere Kafka deren wirkliche Potenz und durch das Schreiben „übernehme er selbst die Macht über sie“. Man wünscht diese Rede mit ihren Ausblicken auf andere Kafka-texte unbedingt nachzulese­n.

Nach einer halben Stunde Lüftungspa­use trat vor sattblau getöntem Hintergrun­d das Ensemble Ascolta auf, sieben Musikprofi­s, die sich alle auf mehrere Instrument­e, Perkussion, Pantomime, auf Singen und Sprechen verstehen. Der Kafkatext stand als rhythmisch­e, einer Litanei nicht ferne Lesung im Mittelpunk­t, dazu Passagen aus „Der Prozess“und aus Briefen. Fürwahr ein Musiktheat­er, erst viele Töne, Klangeffek­te und Geräusche, zum Schluss mehr Theater, unter der aufwändige­n Klangregie Oliver Fricks von der Mitte der Aula aus. Es ist eine von der deutschen Phonetik geprägte Kompositio­n, mal in eruptiven oder fein ausziselie­rten Soli, mal als monumental dröhnende Kakophonie, in Szene gesetzt nur durch das Licht.

Aber eines darf man nach diesem Abend annehmen: Kafka selbst hätte wohl auch über den tiefen Ernst der sieben Musiker heftig lachen können.

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