Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Franzosen demonstrieren gegen Impfpflicht
Mehr als 200 000 Menschen gehen landesweit auf die Straße und sprechen von „Corona-diktatur“
- „Liberté, Liberté“schallt es schon zwei Stunden vor Demonstrationsbeginn auf der schicken Avenue de Villiers im 17. Pariser Stadtbezirk. Hunderte Menschen warten auf den Beginn der Kundgebung gegen die Impfpolitik, zu der einige Gelbwestengruppen aufgerufen haben. Am 12. Juli sprach Staatschef Emmanuel Macron im Fernsehen zu seinem Volk, um den Gesundheitspass einzuführen. Der Pass weist eine doppelte Impfung nach, die neben einem negativen Covid-test nun eine Art Sesamöffne-dich für die meisten Freizeitvergnügen ist. Daneben kündigte Macron auch eine Impfpflicht für das Pflegepersonal an, die ab Mitte September gelten soll. Die Nationalversammlung stimmte nach nur sechs Tagen Debatte den strikten Maßnahmen zu, mit denen die Regierung die rasante Ausbreitung der Delta-variante bremsen will.
Dass die Zahl der beatmeten Patienten diese Woche wieder die Tausender-marke überschritt, interessiert die landesweit gut 200 000 Demonstrierenden nicht. Sie fühlen sich als Opfer einer von Macron errichteten „Corona-diktatur“. Ein Mann in gelber Wester zieht ein DIN-A4-BLATT hervor, auf dem auf Deutsch „Ausweis“und darunter „Pariser Kommandantur“steht. Der Zettel enthält als Jahreszahl das Jahr 1940, als die Nazi-besatzung Frankreichs begann. „Damals durften die Juden auch nicht in die Restaurants“, sagt der Mittvierziger erbost.
Vergleiche der Nichtgeimpften mit den Juden zur Ns-zeit sind verbreitet unter den Impfgegnern. Einige trugen in den vergangenen Wochen auch den gelben Stern mit der Aufschrift „Nicht Geimpft“. Dass der Dachverband der jüdischen Organisationen CRIF von einer „schändlichen Instrumentalisierung der Geschichte“
spricht, stört die wenigsten unter ihnen.
Laut einer Umfrage bejahen vier von zehn Franzosen die Kundgebungen. Einer anderen Umfrage zufolge sind 62 Prozent für den Gesundheitspass und 69 Prozent für die Impfpflicht für Pflegende. Da die Siebentage-inzidenz in Frankreich am Freitag bei 214 pro 100 000 Einwohnern lag, gilt in einigen Urlaubsregionen bereits wieder Maskenpflicht im Freien. Diese Woche wurde die Marke von 40 Millionen Erstgeimpften überschritten. Die Impfgegner sind angesichts dieser Zahlen eine kleine, aber lautstarke Minderheit.