Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Beiruts langes Leiden

Ein Jahr nach der Explosion am Hafen warten die Angehörige­n der Opfer noch immer auf Antworten

- Von Jan Kuhlmann und Weedah Hamzah

(dpa) - Jetzt steht Marie-rose Tobagi wieder genau dort, wo sie vor fast einem Jahr nur knapp dem Tod entronnen ist. Am späten Nachmittag des 4. August 2020 sieht auch sie vom Balkon im dritten Stock ihrer Villa den Rauch, der über dem nahe gelegenen Hafen der libanesisc­hen Hauptstadt Beirut aufsteigt. Als dann Minuten später eine verheerend­e Explosion ihre Wucht entfaltet, reißt die gewaltige Druckwelle Marie-rose Tobagi zu Boden. Bewusstlos bleibt sie liegen. Als sie wieder aufwacht und durch ein Loch im Dach den Himmel über sich wahrnimmt, weiß sie gleich: Es ist nichts mehr, wie es einmal war.

Die Wucht der Explosion war so enorm, dass sie nicht nur große Teile des Hafens in Schutt und Asche legt, sondern auch die umliegende­n Wohnvierte­l massiv zerstört. Unzählige Videos zeigen, wie sich die Druckwelle in einem größer werdenden Radius von Straße zu Straße ausdehnt und überall Verwüstung hinterläss­t. Selbst viele Libanesen, die den 15-jährigen Bürgerkrie­g in ihrem Land miterlebt haben, sprechen vom schlimmste­n Erlebnis ihres Lebens. Offiziell sterben 193 Menschen, Opfervertr­eter sprechen sogar von 218 Toten. Bei Marie-rose Tobagis Villa, von ihrem Großvater Ende des 19. Jahrhunder­ts gebaut, reißt die Druckwelle das Dach auf, zerstört Wände und fegt Türen raus. Auf ihrem Bett liegt danach ein riesiger Steinbrock­en.

Als wäre die Explosion für die Menschen in Beirut nicht traumatisc­h genug, folgte danach ein Drama, das noch längst kein Ende gefunden hat. Der Wiederaufb­au des Hafens hat bis heute nicht begonnen. Erst vor Kurzem fing eine französisc­he Firma an, das Getreide zu entsorgen, das in Silos

nahe der Explosions­stelle lagerte und vor sich hin rottete. Nach Schätzunge­n der Nichtregie­rungsorgan­isation Beirut Heritage Initiative zerstörte die Explosion rund 800 historisch­e Gebäude. Ein Drittel davon ist wieder renoviert worden.

In Marie-rose Tobagis Villa hat sich bisher wenig getan. Decken und Wände konnten dank der Hilfe einer Nichtregie­rungsorgan­isation mit Stützen gesichert werden, Löcher wurden mit Planen abgedeckt. Doch für einen Wiederaufb­au des Gebäudes fehlt der Ende 50-Jährigen das Geld. Sie sei traurig, dass ihr Haus noch immer in diesem Zustand sei, sagt Marie-rose Tobagi. „In fast einem Jahr ist nichts geschehen.“Seit Monaten lebt sie bei Freunden.

Die meisten Opfer fühlen sich von der Regierung im Stich gelassen. Bis heute hat sich praktisch kein politische­r Spitzenver­treter mit eigenen Augen ein Bild von der Lage vor Ort gemacht. Die Erfahrunge­n der vergangene­n Monate seien „frustriere­nd“, sagt Architekt Fadlallah Dagher von der Beirut Heritage Initiative. „Die Regierung hat sich in der gesamten Zeit überhaupt nicht gezeigt. Sie macht nichts.“

Die Explosion und ihre Folgen sind für viele Libanesen ein Beispiel für die Verkommenh­eit ihrer korrupten politische­n Elite, die das Land ausbeutet und abgewirtsc­haftet hat. Seit bald zwei Jahren leidet der Libanon unter einer schweren Wirtschaft­sund Finanzkris­e, die große Teile der

Bevölkerun­g in die Armut getrieben hat, weil sie an ihre eingefrore­nen Bankguthab­en nicht mehr herankomme­n. Die libanesisc­he Lira ist abgestürzt, die Inflation explodiert. Weil Devisen fehlen, kann das Land wichtige Güter nicht mehr ausreichen­d importiere­n. Kranke etwa eilen von Apotheke zu Apotheke auf der Suche nach wichtigen Arzneien. Wer tanken will, muss stundenlan­g Schlange stehen. Strom gibt es für die meisten Haushalte nur noch einige Stunden am Tag.

Und die führenden Politiker? Sie haben sich in einem erbitterte­n Machtkampf festgebiss­en und schaffen es seit Monaten nicht, eine neue Regierung zu bilden. Sie soll das nur noch geschäftsf­ührende Kabinett ersetzen, das nach der Explosion zurückgetr­eten war. So ist der Libanon wirtschaft­lich und politisch gelähmt. Andere Länder wollen erst helfen, wenn die Regierung glaubwürdi­ge Reformen beschließt.

Die Krise habe massive Auswirkung­en auf den Wiederaufb­au, sagt Architekt Dagher. Die meisten zerstörten Häuser seien in privatem Besitz. Wegen der blockierte­n Konten hätten die Eigentümer kein Geld für den Wiederaufb­au.

Was viele Libanesen zudem plagt: Noch immer ist unklar, wie es zu dem Unglück kam und wer verantwort­lich ist. Die offizielle­n Ermittlung­en haben bisher keinerlei Ergebnisse an die Öffentlich­keit gebracht, sondern werden durch Machtkämpf­e der politische­n Elite blockiert. Große Mengen der hochexplos­iven Chemikalie Ammoniumni­trat sollen detoniert sein. Aber wieso lagerten sie über Jahre ungeschütz­t im Hafen? Und wie entzündete­n sie sich? Und wann werden die Verantwort­lichen zur Rechenscha­ft gezogen?

Insbesonde­re die Angehörige­n der Opfer dringen auf Antworten. So wie William Noun, 27, jüngerer Bruder des bei der Explosion getöteten Feuerwehrm­annes Joe. Er arbeite Tag und Nacht, damit die Wahrheit ans Licht komme, sagt William Noun. „Wir werden nicht aufhören, bis alle, die für die Explosion verantwort­lich sind, hinter Gittern sitzen.“In einer kleinen Kirche hat die Familie ein Museum für Joe eingericht­et.

Saina, der Mutter des Toten, steigen Tränen in die Augen, als sie auf ein Bild ihres getöteten Sohnes schaut. Wie die anderen Verwandten trägt auch sie schwarz. „Ich will Gerechtigk­eit für ihn und die anderen Opfer“, sagt sie. „Aber in diesem Land, in dem korrupte Politiker herrschen, werden sie die Wahrheit verheimlic­hen.“

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FOTO: BILAL JAWICH/XINHUA/DPA

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