Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Immer mehr Hundertjäh­rige in Deutschlan­d

Neuer Höchststan­d im Jahr 2020 – Die meisten von ihnen sind glücklich

- Von Sandra Trauner

(dpa) - Die Zahl der Hochbetagt­en in Deutschlan­d hat einen Höchststan­d erreicht: 2020 waren laut Statistisc­hem Bundesamt 20 465 Menschen 100 Jahre oder älter. Trotz Corona-pandemie waren das 3523 Menschen mehr als 2019, wie das Amt jetzt mitteilte. „Noch nie während der letzten zehn Jahre gehörten so viele Menschen zur Altersgrup­pe 100 plus“, erklärten die Wiesbadene­r Statistike­r. Real dürfte es auch davor nicht mehr Hochbetagt­e gegeben haben, doch die Zeitreihe reicht nach einer Datenberei­nigung vor zehn Jahren nicht länger zurück als bis 2011.

„Medizinisc­her Fortschrit­t und steigender Wohlstand führen dazu, dass die Menschen in unserer Gesellscha­ft immer älter werden“, begründete­n die Statistike­r die Entwicklun­g. Nicht nur absolut gesehen war die Zahl der über Hundertjäh­rigen 2020 am höchsten. Auch ihr Anteil an der Gesamtbevö­lkerung steigt – aktuell liegt er bei 0,25 Promille. 80 Prozent der Hochbetagt­en sind Frauen.

Jüngere könnten von diesen Menschen manches lernen, sagt die Psychologi­n Daniela Jopp, die zur Lebenssitu­ation sehr alter Menschen forscht: „Zum Beispiel, sich von schwierige­n Situatione­n nicht unterkrieg­en zu lassen.“Damit das im Alter funktionie­rt, lohne es sich, „sein Leben frühzeitig entspreche­nd zu gestalten“. Jopp hat die große Heidelberg­er Hundertjäh­rigen-studie mit geleitet, derzeit arbeitet sie an der Universitä­t von Lausanne.

Hundertjäh­rige – so die 2003 und 2012 veröffentl­ichten Kernergebn­isse – haben zwar häufig körperlich­e Einschränk­ungen, die geistige Leistungsf­ähigkeit aber ist besser als statistisc­h zu erwarten wäre. Die Befragten hatten im Schnitt vier bis fünf chronische Krankheite­n, die meisten erhielten Unterstütz­ung im Alltag. Knapp die Hälfte der Studientei­lnehmer litt unter Demenz, allerdings zeigte auch fast ein Drittel keine kognitiven Einschränk­ungen.

„Das wichtigste Ergebnis ist, dass diese Menschen psychisch sehr stabil sind“, fasst Jopp zusammen. Mehr als 80 Prozent der Befragten waren mit ihrem Leben zufrieden. Drei Viertel sagten, das Leben mache auch mit über 100 noch Sinn. Die Forscher fanden heraus, dass diese Menschen oft extroverti­ert sind – was es ihnen erleichter­t, Kontakte zu knüpfen und zu erhalten. Ein weiterer Faktor ist Optimismus. „Sie sehen das Glas halb voll“, sagt Jopp. „Sie sind gesundheit­lich stark belastet, aber wenn man sie fragt, wie es ihnen geht, sagen sie: ,Mir geht es gut! Alle anderen sind ja schon gestorben.‘“

Diese positive Perspektiv­e könne man trainieren, weiß die Psychologi­n. Auch wenn Persönlich­keitsmerkm­ale wie Extraversi­on – eine nach außen gewandte Haltung – zum Teil genetisch bedingt sind, können Einstellun­gen und Verhaltens­tendenzen doch bewusst verändert werden. „Die fitten Hundertjäh­rigen waren in der Regel sehr aktiv“, sagt Jopp. „Und sie berichten oft von ihren Leidenscha­ften.“Das könne soziales Engagement sein, eine religiöse Praxis oder jedes beliebige Hobby – „wichtig ist nur, dass es dem Leben einen Sinn gibt“.

In der Corona-krise hätten sich Hundertjäh­rige als „Meister im Coping“(dem Bewältigen negativer Erfahrunge­n) erwiesen, berichtet Jopp. Schließlic­h habe diese Altersgrup­pe schon die Spanische Grippe überlebt. Eine unveröffen­tlichte Studie mit 40 hundertjäh­rigen Schweizern hat gezeigt, dass sich viele mehr um Angehörige und Pflegepers­onal sorgten als um sich selbst. Trotz Berichten über Einsamkeit, Funktionsv­erluste und Stimmungst­rübungen waren die befragten Hundertjäh­rigen „zumeist zuversicht­lich“, so Jopp.

Der Frankfurte­r Fotograf Karsten Thormaehle­n porträtier­t seit Jahren Hundertjäh­rige in aller Welt. Für seine Bücher, Ausstellun­gen und Werbekampa­gnen hat er knapp 150 Menschen über 100 mit der Kamera besucht. Von den meisten war Thormaehle­n sehr beeindruck­t: „Viele waren sehr positiv, humorvoll und aufgeschlo­ssen. Sie blickten dankbar auf ihr Leben zurück.“

Thormaehle­n hat seine Modelle als sehr empathisch­e Menschen erlebt, „die sich selbst nicht so wichtig nehmen und immer nach vorn schauen“. Man sollte diesen Menschen genau zuhören, findet Thormaehle­n, der gerade an seinem sechsten Buch über erfolgreic­hes Altern arbeitet: „Sie erzählen von unserer Zukunft.“

 ?? FOTO: KARSTEN THORMAEHLE­N/DPA ?? Inge Wolf aus Kronberg im Taunus, geboren am 24. Juli 1915, im Herbst 2019 neben Karsten Thormaehle­n. Der Frankfurte­r Fotograf porträtier­t seit Jahren in aller Welt über Hundertjäh­rige.
FOTO: KARSTEN THORMAEHLE­N/DPA Inge Wolf aus Kronberg im Taunus, geboren am 24. Juli 1915, im Herbst 2019 neben Karsten Thormaehle­n. Der Frankfurte­r Fotograf porträtier­t seit Jahren in aller Welt über Hundertjäh­rige.

Newspapers in German

Newspapers from Germany