Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Studium im Kleinforma­t

Nach drei Semestern vor dem Bildschirm leiden viele Studierend­e unter Vereinsamu­ng – Der wissenscha­ftliche Diskurs bleibt in den eigenen vier Wänden auf der Strecke

- Von Katja Waizenegge­r

an sieht ●sie nicht, meistens hört man auch nichts von den 2,9 Millionen Studierend­en an den deutschen Hochschule­n. Denn seit der Pandemie findet die akademisch­e Wissensver­mittlung im eigenen Zimmer vor dem Bildschirm statt. Der Einzelne hat dort kein Gesicht, sondern taucht in den meisten Fällen nur als schwarze Kachel mit Kürzel auf, verschwind­et in der digitalen Anonymität. Zur Wissensver­mittlung reicht das aus, doch ein wissenscha­ftlicher Diskurs findet nicht statt.

Ende Juni schreckte eine Studie der Johann-wolfgang-goethe-universitä­t Frankfurt die Öffentlich­keit auf: Online-schulunter­richt sei in etwa so effektiv wie Sommerferi­en. Das hat gesessen. Zermürbte Eltern, Lehrer am Rande der Erschöpfun­g, traurige Kinder – der Frust der vergangene­n Monate schien sich an diesem Studienerg­ebnis zu entzünden. Genauer haben nur wenige hingeschau­t. Wer das macht, erkennt, dass sich die Ergebnisse auf die ersten Wochen der Pandemie beziehen, als der Schulunter­richt zum Teil völlig zum Erliegen kam. Und es wurden viele junge Schüler befragt, die digital nur sehr schwer unterricht­et werden können.

Man darf vermuten, dass das Lernen an den Hochschule­n besser funktionie­rt. Schließlic­h sitzen hier erwachsene junge Menschen vor dem Bildschirm. Doch ist das tatsächlic­h so? „Studierend­en kann man in Bezug auf Onlineunte­rricht mehr zumuten als Schülern“, bestätigt Michael Stürner, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerlich­es Recht an der Universitä­t Konstanz und deren Prorektor für Lehre. Frontalunt­erricht, wie bei großen Vorlesunge­n üblich, funktionie­re auch digital: Einer spricht, alle anderen hören zu.

Aber wenn es darum geht, eine Rückmeldun­g abzugeben, auf die wieder ein anderer reagiert, beginnt Kommunikat­ion. Und diese kommunikat­ive Ebene – das bestätigen alle befragten Dozenten nach Monaten der Onlinelehr­e – funktionie­rt im digitalen Raum selten. „Ich schaue auf einen schwarzen Bildschirm, erkläre etwas, sehe aber nicht, ob es bei meinen Studentinn­en und Studenten ankommt. Und wenn ich nachfrage, kommt meist keine Antwort“, sagt Heidi Reichle, Prorektori­n für Didaktik, Digitalisi­erung und Kommunikat­ion an der Hochschule Ravensburg­weingarten. Vor allem, wenn die Gruppen groß sind und sich die Studierend­en nicht kennen, bleiben sie passiv.

„Wenn man nur zuhört und selbst nicht sichtbar ist, agieren die meisten,

Mals wären sie nicht vorhanden“, sagt Stürner. Für Bernd Reinhoffer, Prorektor für Studium und Lehre an der Pädagogisc­hen Hochschule in Weingarten, ist ein Studium auch Persönlich­keitsbildu­ng. „Mir ist wichtig, in einen Diskurs zu treten. Ich fordere meine Studierend­en aktiv zum Widerspruc­h auf. Das ist Wissenscha­ft: Pro und Kontra sammeln und eine eigene Meinung entwickeln.“

Aber warum bleibt dieser wissenscha­ftliche Diskurs online auf der Strecke? Und das bei einer Generation, die ohne Handy keinen Schritt macht und wie kaum eine zuvor vertraut ist mit der digitalen Welt? Einer, der zu Online-unterricht an Hochschule­n geforscht hat, als Corona noch ein seltener Vorname war, ist Christian Fischer, Professor für

Educationa­l Effectiven­ess (pädagogisc­he Wirksamkei­t) an der Universitä­t Tübingen. Er benennt drei Grundbedin­gungen, die erfolgreic­hes Lernen ermögliche­n: Da ist zunächst das autonome Erleben, das befähigt, selbst Entscheidu­ngen zu treffen mit ihren Auswirkung­en für die Zukunft. Dann das Erleben von Kompetenz wenn man neue Dinge lernt. Die dritte Voraussetz­ung für erfolgreic­hes Lernen ist das Gefühl der Eingebunde­nheit, „Sense of Belonging“genannt. Eben dieses Gefühl der Zugehörigk­eit ist in einem Online-studium nur schwer zu erreichen, vor allem für Studienanf­änger. Zwar bemühen sich alle Hochschule­n und Fachschaft­en der Studierend­en gerade um die Neulinge, doch wer noch nie einen Hörsaal von innen gesehen hat und bislang keinen persönlich­en Kontakt aufbauen konnte, wird schwerlich ein Gefühl der Zugehörigk­eit zu seiner Hochschule und den Menschen dort entwickeln.

Ein weiteres Problem ist das hohe Maß an Selbstdisz­iplin, das ein Online-studium erfordert. Morgens noch im Bett liegend den Laptop aufzuklapp­en und sich im Halbschlaf die erste Vorlesung anzuhören, dürfte für manchen Studierend­en verlockend geworden sein. Im November letzten Jahres hat die Hochschule Biberach für eine Studie 84 Studierend­e und Lehrende an elf Hochschule­n in Baden-württember­g befragt. Sonja Sälzle, stellvertr­etende Leiterin des dortigen Instituts für Bildungstr­ansfer und verantwort­lich für die Studie, berichtet von der „digitalen Erschöpfun­g“vieler Befragter. Ein Tag im Studienzim­mer, das oft gleichzeit­ig als Schlafzimm­er und Küche diene, abends dann soziale Kontakte wieder am PC – ein digitaler Overkill, dem man nur mit viel Selbstdisz­iplin entkommt.

Probleme allenthalb­en. Und doch wurde in den vergangene­n eineinhalb Jahren wenig über die Studierend­en gesprochen. Der Konstanzer Prorektor Stürner gehört einer Taskforce von Hochschulr­ektoren und Dekanatsle­itern an, die mit dem Ministeriu­m für Wissenscha­ft, Forschung und Kunst in Stuttgart eng zusammenar­beitet. Er betont den regen wöchentlic­hen Austausch. Doch: „Offenbar läuft der digitale Unterricht an den Hochschule­n zu reibungslo­s. Deshalb bleiben sie unterhalb des Radars der Öffentlich­keit – und auch der Politik.“Der Prozess der Vereinsamu­ng sei bei Studierend­en oft schleichen­d. Und kaum einer merke, wenn sie sozial und intellektu­ell ersticken, weil sie außer den Kacheln auf dem Bildschirm keinen Kontakt mehr hätten.

Da stellt sich die Frage, ob gerade die Studierend­en, die neu angefangen haben, den Sprung ins kommende Winterseme­ster überhaupt schaffen, oder ob sie ihr Studium frustriert abbrechen. Doch das an Zahlen festzumach­en, ist schwierig. Prüfungsfr­isten wurden und werden ausgesetzt, Semester nicht auf die Höchststud­ienzeit angerechne­t. „Ich kann mir vorstellen, dass ein vielleicht sogar erhebliche­r Teil der Studierend­en das Studium schlicht eingestell­t hat. Sie brechen nicht ab, sie bleiben immatrikul­iert, und erst in ein, zwei Jahren, wenn Prüfungsfr­isten verstreich­en, werden sie exmatrikul­iert“, sagt Stürner. Es sind also Schläfer, die niemand an der Hochschule vermisst, weil sie noch gar nie einen persönlich­en Kontakt, weder zu Kommiliton­en noch zu Lehrenden, hatten. Obwohl der Konstanzer Prorektor in seinen Gesprächen mit dem Ministeriu­m das Aussetzen

der Fristen befürworte­t, räumt er ein, dass es auch Studierend­e gibt, bei denen damit das falsche Signal gesetzt werde. Die Probleme offenbaren sich dadurch nur mit Verzögerun­g.

Was sich allerdings schwarz auf weiß nachprüfen lässt, sind die Noten bei den Prüfungen. Alle befragten Hochschule­n geben hier dieselbe Antwort: Der Notendurch­schnitt bleibt gleich, aber die Verteilung hat sich in den drei Corona-semestern verschoben, in Konstanz wie in Tübingen, Biberach, Rottenburg und Ravensburg-weingarten. Es gibt diejenigen, die gut mit dem Onlinestud­ium klarkommen und deren Noten – vielleicht auch durch großzügige­re Bewertunge­n – besser werden. Das Mittelfeld ist ausgedünnt, größer wird das Feld derjenigen, die Probleme haben und den Anschluss verlieren. Statistisc­h betrachtet sind die Noten unauffälli­g, problemati­sch ist die Verteilung.

„Ich bin auf das Ergebnis gespannt, wenn man in zehn Jahren untersuche­n wird, wie diese Corona-jahrgänge im Berufslebe­n stehen. Das größte Problem sehe ich darin, dass sich die sozialen Disparität­en weiter vergrößern werden“, sagt Fischer. Studierend­e aus besseren sozioökono­mischen Verhältnis­sen werden in ihrem Werdegang noch weitere Möglichkei­ten des Lernens erfahren, in der Familie, bei Auslandsau­fenthalten. Wenn die Universitä­t allerdings der einzige Bezugspunk­t zur akademisch­en Bildung darstellt, wird es problemati­scher. Fischer sagt, dass durch das Onlinestud­ium zwar alle erst einmal gleicher würden. Doch die darunterli­egenden Interaktio­nen, das soziale Lernen falle weg, was nicht zur Bildungsge­rechtigkei­t beiträgt.

Nicht verschwieg­en werden sollen aber auch die positiven Effekte: Als im März 2020 die Lehre von einem Tag auf den anderen ins Netz verlegt wurde, musste funktionie­ren, was vorher an Vorbehalte­n gescheiter­t ist. Die Biberacher Studie geht deshalb auch der Frage nach, wie digitale Lehre an Hochschule­n künftig integriert werden kann. „Da wird auch manch alter Zopf abgeschnit­ten“, sagt die Studienlei­terin Sälze. Was für Hochschule­n künftig sicher eine größere Rolle spielen wird, ist, Experten aus Wissenscha­ft und Wirtschaft aus aller Welt, die den Weg an die Hochschule gescheut hätten, digital zuzuschalt­en.

Viel Schaden, ein wenig Nutzen – so lautet das Fazit nach drei Coronaseme­stern. Man wird sehen, wie stabil der Wille zur Präsenz an den Hochschule­n im Herbst bleibt. Ein viertes Semester als schwarze Kachel auf dem Bildschirm des Professors ist dem akademisch­en Nachwuchs jedenfalls nicht zu wünschen.

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FOTO: IMAGO IMAGES

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