Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Wackliger Mythos
Gegenwärtig lassen sich immer mehr Deutsche davon überzeugen, dass Bäume ein geheimes Leben haben. Politiker, von denen man das nicht unbedingt erwartet hatte, umschlingen Baumstämme. Andere dringen darauf, mehr mit Holz zu bauen und Holz statt fossiler Brennstoffe einzusetzen. Dagegen steht die Angst vor dem neuen Waldsterben. In zehn Jahren, sagt der gerade zum Waldgipfel aufrufende Peter Wohlleben, ist die Hälfte der Bäume hierzulande weg. Wegen des Klimawandels beziehungsweise wegen der Forstwirtschaft. Was wäre also zu tun? Gar nichts, sagt Wohlleben, der bekannteste Förster des Landes: Der Wald hilft sich selbst.
Ob das klappt, ist aus den Erkenntnissen von früher schwer herauszufiltern. Richtige Urwälder hat es nicht einmal zu Zeiten des Tacitus gegeben, der den Mythos vom germanischen Wald geprägt hat. Aufgegriffen haben diesen Mythos die Romantiker. Zu einem Zeitpunkt, an dem es dem Wald keineswegs glänzend ging. Wer denkt, hierzulande hätte man früher den Wald vor Bäumen nicht gesehen, irrt. Seit 1400 sind etwa auf einem Drittel der Fläche Wald zu finden. Geblieben ist der Sehnsuchtsort Wald, der aber seit Jahrhunderten Nutzwald ist. Den sauren Regen hat er überlebt, doch überlebt er auch den Klimawandel?
„Wälder sollen naturnah sein – und produktiv. Ihre Bewirtschaftung soll nutzbringend und umweltgerecht sein. Und Wälder sollen gerüstet sein für den Klimawandel.“So fasst es das Eberswalder Thünen Institut für Waldökosysteme zusammen. Fakt ist, wenn wir uns nicht darauf beschränken wollen, im Wald Pilze zu sammeln, sondern auch noch Holz als Bau- und Nutzmaterial haben möchten, wird die Idee vom sich selbst überlassenen Urwald nicht genügend Anhänger finden. Hinzu kommt hierzulande die unübersichtliche Struktur des Waldbesitzes. Vor alleinseligmachenden Wahrheiten ist zu warnen. Deswegen könnten Waldgipfel nützlich sein. Aber nur wenn Politiker, Waldbesitzer und Wissenschaftler aller Glaubensund Meinungsrichtungen ergebnisoffen diskutieren.