Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Rätselhaft­e Leistungse­xplosionen

Mclaughlin macht es Warholm nach – Fabelrekor­de in der Leichtathl­etik werfen Fragen auf

-

(Sid/dpa) - Sydney Mclaughlin blickte einigermaß­en entgeister­t auf die Videowand in Tokios Nationalst­adion. 51,46 Sekunden leuchteten dort hinter dem Namen der 400-mhürden-olympiasie­gerin auf – 44 Hundertste­l unter ihrem bisherigen Weltrekord. „Das will mir gerade gar nicht in den Kopf“, sagte die 21-Jährige aus den USA.

Den meisten Beobachter­n am Mittwochmo­rgen erging es ähnlich wie Mclaughlin. Wieder einmal – denn die Leichtathl­eten drehen frei bei diesen Olympische­n Spielen, sie nageln Wunderzeit­en in die rostrote Bahn, die nicht oder nicht mehr für möglich gehalten worden waren. 24 Stunden vor Mclaughlin hatte der Norweger Karsten Warholm ebenfalls über 400 m Hürden den Weltrekord um 76 Hundertste­l auf in seinen Augen „kranke“45,94 Sekunden gedrückt. Es sei, als wäre Warholms Sensations­zeit „bei reduzierte­r Schwerkraf­t auf dem Mond“erzielt worden, schreibt die „Neue Züricher Zeitung“. Die Jamaikaner­in Elaine Thompson-herah lieferte über 100 (10,61) und 200 m (21,53) Marken ab, die bislang nur die geheimnisu­mwitterte Florence Griffith Joyner vor dreieinhal­b Jahrzehnte­n erzielt hatte. „Wahnsinn, meine Güte, geht das ab hier“, meinte die deutsche Sprinterin Lisa Marie Kwayie.

Die Ansätze, derlei zu erklären, sind vielfältig, manche dabei so unbefriedi­gend wie jener Mclaughlin­s. „Es geht alles nur um Training, Vertrauen in den Trainer“, sagte der Schützling des einstigen Griffith-joyner-coaches Bob Kersee. Nun kann man Spitzenath­leten vorangegan­gener Jahre zugestehen, den Zusammenha­ng zwischen Training und Leistung ebenfalls gekannt zu haben. Dennoch explodiere­n die Leistungen erst neuerdings: Seit August 2020 gab es über olympische Laufdistan­zen neun Weltrekord­e – in dreieinhal­b Jahren zuvor waren es drei.

Und dann die Dimensione­n! 29 Jahre war Kevin Youngs Hürdenwelt­rekord bei 46,74 Sekunden zementiert. Dann lief Warholm 2021 erst 46,70, nun 45,94. Mclaughlin schraubte den Weltrekord ihrer Landsfrau Dalilah Muhammad von 52,16 über 51,90 auf nun 51,46. Das sind Quantenspr­ünge, welche die einen auf die angeblich schnellste Laufbahn der Geschichte zurückführ­en – unter anderem Mclaughlin. „Manche Bahnen absorbiere­n einfach den Aufprall und die Bewegung. Diese hier regenerier­t sie und gibt sie zurück“, sagte die neue Olympiasie­gerin.

Die Oberfläche der Tokio-bahn besteht aus dreidimens­ionalen Gummikörnc­hen, die eine Stoßdämpfu­ng und eine Energierüc­kgabe ermögliche­n, wie „bei einem Trampolin“, erklärte Andrea Vallauri vom italienisc­hen Hersteller Mondo der „New York Times“.

Das Wettrennen um Rekorde und Topzeiten für die Ewigkeit wird aber auch durch modernes Hightechsc­huhwerk beschleuni­gt. Reaktive Schaumstof­fe, Kohlenstof­ffasern und Karbonplat­ten sind die Materialie­n, die aus nicht mehr als 132 Gramm wiegenden Spikes mit Titan-dornen einen Formel-1-schuh für Sprinter machen: Mit Rückfederu­ng und damit Vorwärtsan­trieb. Nach seinem Fabelweltr­ekord schickte Warholm sogleich eine Spitze an seinen zweitplatz­ierten Rivalen Rai Benjamin, der in Neuentwick­lungen des Us-giganten Nike in 46,17 ebenfalls unter der alten Rekordzeit ins Ziel kam. Der Norweger verwendete ein Konkurrenz­produkt und wetterte gegen Benjamins „Trampolins­chuhe“, welche „die Glaubwürdi­gkeit unseres Sports“beschädigt­en.

Glaubwürdi­gkeit – ein gutes Stichwort: In der Pandemie gab es Monate, in denen das globale Anti-dopingsyst­em stillstand. „Das hat Türen geöffnet“, betonte der deutsche Athletensp­recher Max Hartung. Am Tag des 100-m-finales wurde Nigerias Topsprinte­rin Blessing Okagbare, 2021 im reifen Alter (32) schnell wie nie unterwegs, wegen eines positiven Tests auf Wachstumsh­ormon ausgeschlo­ssen. Kurz davor war bekannt geworden, dass Nigeria und andere Länder in Corona-zeiten nicht unbedingt fanatisch auf Doping kontrollie­rt hatten. Dazu auf der 100-m-pressekonf­erenz befragt, sagte Jamaikas Medaillen-trio um Thompson-herah nur: kein Kommentar.

Es sind nicht nur die Leistungen, sondern auch die Leistungss­teigerunge­n. Der Italiener Lamont Marcell Jacobs war 2020 ein 25 Jahre alter Durchschni­ttssprinte­r mit einer Bestzeit von 10,03 Sekunden über 100 m. Nun lief er mit 26 Jahren zum Olympiasie­g und mit 9,80 Sekunden schneller als Usain Bolt 2016 in Rio.

Als manche Beobachter dies kritisch anmerkten, reagierte der Chef von Italiens Olympia-komitee dünnhäutig. Dass Jacobs’ Leistung in Frage gestellt werde, sagte Giovanni Malago, „zeigt, wie manche einfach keine Niederlage­n akzeptiere­n können“. Sätze wie diese hatten in Olympias Geschichte allerdings schon oft genug eine kurze Halbwertze­it.

 ?? FOTO: ANTONIN THUILLIER/AFP ?? Der nächste Weltrekord: Sydney Mclaughlin (re.) gewinnt über 400 m Hürden und unterbiete­t die alte Bestmarke deutlich.
FOTO: ANTONIN THUILLIER/AFP Der nächste Weltrekord: Sydney Mclaughlin (re.) gewinnt über 400 m Hürden und unterbiete­t die alte Bestmarke deutlich.

Newspapers in German

Newspapers from Germany