Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Teures Umsteuern
Was die Parteien bei der Einkommensteuer planen, wen sie entlasten wollen und wer das bezahlen soll
- Da die Parteien den Mittelstand besonders umwerben, denken sie auch über steuerliche Entlastungen nach. Im Zentrum steht dabei der Mittelstandsbauch, also die überproportionale steuerliche Belastung der mittleren Einkommen. Dieser Mittelstandsbauch ist heute größer als je zuvor. Schon bei der letzten Wahl 2017 wurde er auf 35 Milliarden Euro geschätzt. Inzwischen dürfte er auf bis zu 40 Milliarden Euro angewachsen sein. Besonders betroffen ist die Mittelschicht, also Durchschnitts- und Gutverdiener. Und da sie im Wahlkampf besonders umworben sind, denken die meisten Parteien nach, wie sie den Mittelstandsbauch abschaffen oder zumindest verringern können.
Das Problem
Schmerzlich zu spüren ist der Mittelstandsbauch bei Gehaltserhöhungen: Vom zusätzlichen Geld landet ziemlich viel beim Finanzamt und nicht in der eigenen Tasche. Grund dafür ist ein sichtbarer Knick in der sonst stetig ansteigenden Steuerkurve, die beschreibt, wie stark jeder zusätzliche Euro mit Steuer belastet wird. Sie steigt nicht kontinuierlich an, wie das bei einem progressiven Tarif zu erwarten wäre, sondern schneller. Der etwas komplizierte Hintergrund: Das Existenzminimum (aktuell 9743 Euro pro Erwachsenem) ist immer steuerfrei. Der Spitzensteuersatz von 42 Prozent wird für Einkünfte ab 57 918 Euro fällig. Dazwischen gibt es diesen Knick. Ab 9744 Euro geht es mit 14 Prozent Steuer los. Zunächst steigt die Belastung sehr schnell an, und zwar bis 14 753 Euro. Danach geht es nicht mehr ganz so schnell nach oben.
Die Folgen
Was sich auf den ersten Blick gar nicht so dramatisch anhört, bringt dem Staat viel Geld. Stefan Bach, Steuerexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), schätzt die aktuellen Mehreinnahmen auf 39 Milliarden Euro. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) kommt sogar auf 40 Milliarden Euro.
Reformbemühungen
Hans Eichel (SPD) war der letzte Finanzminister, der eine grundlegende Änderung des Einkommensteuertarifs durchsetzte. In den vergangenen drei Legislaturperioden gab es keine großen Veränderungen – und keine wesentlichen Vereinfachungen. Regelmäßig wurde nur der Grundfreibetrag erhöht, weil dies das Bundesverfassungsgericht verlangt, und dabei wurden die Punkte für den Knick und den Spitzensteuersatz verschoben. Die einzige echte Entlastung kam Anfang dieses Jahres durch den Wegfall des Solidaritätszuschlags für rund 90 Prozent der Steuerzahler.
Die Pläne der Parteien
„Alle wollen die Mitte entlasten“, lautet das Fazit des IW angesichts der Steuerpläne in den Wahlprogrammen. Der Begriff „Mittelstandsbauch“taucht nur bei der FDP auf: Sie will ihn vollständig abschaffen, und zwar in drei Schritten 2022 bis 2024. Außerdem soll der Spitzensteuersatz erst ab 90 000 Euro greifen und nicht schon bei knapp 58 000 Euro wie derzeit, und der Soli soll für alle wegfallen. Letzteres will auch die Union. Sie möchte zudem „kleine und mittlere Einkommen bei der Einkommensteuer entlasten“, ohne sich genauer festzulegen. Ähnlich vage sind die Pläne der SPD: Sie will die Steuern „für die Mehrheit senken“. Dafür soll die „Reichensteuer“von 45 auf 48 Prozent erhöht werden, und sie sollen weiter Soli zahlen. Die Grünen möchten den Grundfreibetrag erhöhen – wie stark, sagen sie nicht –, ansonsten aber den Tarif für kleine und mittlere Einkommen unverändert lassen. Ab 100 000 Euro soll der Spitzensteuersatz auf 45 Prozent steigen, ab 250 000 Euro auf 48 Prozent. Die Linke will den Grundfreibetrag auf 14 400 Euro steigern und den Steuerverlauf abflachen. Der Spitzensteuersatz soll ab 70 000 Euro 53 Prozent betragen, die Reichensteuer bis zu 75 Prozent. Einzig die AFD nennt keine konkreten Pläne bis auf die vollständige Abschaffung des Soli.
Folgen für die Bürger
Geringverdiener profitieren nicht von Steuersenkungen, weil sie schon heute keine Steuern zahlen. Umgekehrt haben Gutverdienende besonders viel davon, weil sie besonders viel dem Staat überlassen müssen. Würde der Mittelstandsbauch ganz beseitigt, würden alleine die zehn Prozent Spitzenverdiener elf Milliarden Euro weniger Steuern zahlen, rechnet Stefan Bach vom DIW vor. Die Wahlprogramme sind größtenteils sehr vage. Trotzdem hat das IW versucht auszurechnen, wer profitieren würde. Beim Unionsprogramm würden alle etwas weniger zahlen, aber eher bescheiden entlastet. Das sieht bei der FDP anders aus; da winkt hohen Einkommen eine fünfstellige Ersparnis. Bei der SPD würden die meisten leicht entlastet, nur Spitzenverdiener belastet. Ähnlich sieht es bei den Grünen aus. Die Linke will insbesondere bei sehr hohen Einkommen deutlich mehr abnehmen.
Folgen für den Staat
Die vollständige Abschaffung des Mittelstandsbauchs würde etwa 40 Milliarden Euro im Jahr kosten. Gemessen an den 283 Milliarden Euro, die die Lohn- und Einkommensteuer 2019 brachte, sind das 14 Prozent – ein ziemlicher Brocken. Daher ist realistischer, dass er nur reduziert wird – wenn überhaupt Geld dafür bleibt.
Was die Pläne kosten
Steuerentlastungen gehen schnell ins Geld. Mit 75 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen wären die Einkommensteuer-pläne der FDP mit Abstand am teuersten, hat das IW aufgrund der Wahlprogramme ausgerechnet. Das Konzept der Union würde einen Steuerausfall von 20 Milliarden Euro bringen. Die SPD könnte sich dagegen zwei Milliarden Euro Mehreinnahmen erhoffen, weil sie Reiche stärker belasten will. Die Vorschläge der Grünen wären aufkommensneutral. Obwohl die Linke Reiche kräftig abkassieren will, ist bei ihrem Konzept mit einem Ausfall von 10 Milliarden Euro zu rechnen, weil ein deutlich höherer Grundfreibetrag für alle sehr viel kostet.