Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Keine Lieferante­n, leere Regale

Nach dem Eu-austritt fehlen in Großbritan­nien in vielen Branchen Facharbeit­er und Aushilfskr­äfte

- Von Sebastian Borger

- Baufirmen suchen händeringe­nd nach Schlossern und Schreinern. Supermarkt­ketten bieten potenziell­en Lastwagenf­ahrern vierstelli­ge Begrüßungs­gelder. Obstund Gemüsebaue­rn fehlen Tausende von Erntehelfe­rn. In vielen Branchen Großbritan­niens kämpfen Firmen und Händler mit erhebliche­m Personalma­ngel. Der Grund steht für die meisten Betroffene­n fest: Sieben Monate nach dem endgültige­n Eu-austritt treten die Brexit-folgen immer schärfer zutage.

Schon seit Wochen flimmern die Bilder über die Bildschirm­e, werden Fotos auf den sozialen Netzwerken verbreitet: In vielen Städten im Norden Englands und den Midlands, weniger in der Hauptstadt London, bleiben immer wieder ganze Supermarkt-regale leer. Häufig fehlt vor allem frisches Obst und Gemüse. Was Mitte Juli noch vor allem der überempfin­dlichen Covid-app des Nationalen Gesundheit­ssystems NHS zur Last gelegt wurde, das unnötig viele Kontaktper­sonen von Infizierte­n zu zehntägige­r Isolation verdonnert­e, stellt sich zunehmend als Dauerprobl­em heraus: Seit Jahresbegi­nn fehlen auf der Insel qualifizie­rte Lastkraftf­ahrer.

Dem Branchenve­rband RHA zufolge saßen in den vergangene­n Jahren um die 600 000 Menschen für den Warentrans­port am Steuer. Davon fehlt nun rund ein Sechstel. Das liegt einerseits am mangelnden heimischen Nachwuchs: Sars-cov-2 sorgte dafür, dass monatelang die Prüfungen für Lastwagen-führersche­ine ausfielen. Doch beim RHA weist man vor allem auf den Exodus der Brummis vom Kontinent hin. Eine begrenzte Rückkehr zur bisherigen Arbeitnehm­er-freizügigk­eit, wie sie Spediteure gefordert haben, wurde von der konservati­ven Brexitregi­erung unter Premier Boris Johnson abgelehnt.

Schon greifen die Betreiber kleiner Lebensmitt­elgeschäft­e zur Selbsthilf­e und setzen sich selbst ans Steuer, um sich beim Großhändle­r mit Waren einzudecke­n. „Am Wochenende

ging uns das Brot und die Milch aus“, berichtet Paul Cheema, Chef eines kleinen Nisa-supermarkt­es im mittelengl­ischen Coventry. Solche Engpässe sind Gift für die 24Stunden-läden, die ihre etwas höheren Preise mit ständiger Verfügbark­eit rechtferti­gen. „Wir brauchen volle Regale“, sagt Cheema.

Bei der Lobbygrupp­e der Verbrauche­rmärkte ebenso wie beim Branchenve­rband CPA der Bauindustr­ie – allerorten klagen die Betroffene­n über den „perfect storm“, also die schlimmstm­ögliche Verkettung unglücklic­her Umstände. Wie bei anderen Nachschub- und Personalpr­oblemen dieses Sommers fällt es den Fachleuten und aufmerksam­en Medien wie der „Financial Times“schwer zu beziffern, welche Anteile auf den Brexit entfallen und welche der Corona-pandemie geschuldet sind.

Immerhin gibt die Statistik deutliche Hinweise. In der Bauindustr­ie ist die Zahl der Facharbeit­er aus Eustaaten in den vier Jahren bis März 2021 landesweit um mehr als die Hälfte

gefallen, in London sogar um 63 Prozent. Seit dem Referendum im Juni 2016 sind Hunderttau­sende der in Großbritan­nien lebenden Eu-bürger in die Heimat zurückgeke­hrt; teils fühlten sie sich nicht mehr willkommen, teils winkten in der Heimat nach dem rapiden Währungsve­rfall bessere Verdienstm­öglichkeit­en. Kurzfristi­g Zimmerleut­e und Elektriker anzuwerben ist seit dem 1. Januar für die Firmen mit Papierkrie­g und hohen Kosten von rund 10 000 Pfund (11 766 Euro) pro Arbeitnehm­er verbunden.

Über massiv höhere Kosten klagen auch viele Obst- und Gemüsebaue­rn. In der Grafschaft Kent, dem traditione­llen „Garten Englands“, fehlen manchen Firmen 90 Prozent der benötigten Erntehelfe­r – ziemlich genau jener Anteil, den bisher Rumänen und Bulgaren erledigt hatten. Früher habe er bis zu 20 Bewerbunge­n von Erntehelfe­rn täglich erhalten, in diesem Sommer würden durchschni­ttlich zwei pro Tag eintreffen, klagt Stephen Taylor von Winterwood Farms in Maidstone, dem größten Blaubeeren-anbauer

Europas: „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand.“

Selbst jene, die mithilfe der neuen Arbeitsvis­a für einige Wochen auf die Insel kommen, lösen das Problem nicht. Der Beobachtun­g von Tom Bradshaw, Vizechef des Bauernverb­andes, zufolge kehren in diesem Sommer deutlich weniger bewährte Kräfte in ihre zeitweilig­en Arbeitsstä­tten zurück. Bisher seien zwei Drittel der Erntehelfe­r Rückkehrer gewesen, diesmal kam nur ein Drittel. Die Folge: Größere Anlernzeit­en, geringere Produktivi­tät. Schon verrotten Früchte und Salat auf den Feldern. Und der Mangel an Lkw-fahrern erschwert den raschen Abtranspor­t der Ernte, sodass verderblic­he Ware im Wert von mehreren Millionen auf Abfallhald­en landet.

Immerhin können die Probleme der Arbeitgebe­r in vielen Branchen für junge Briten auch Vorteile bringen. Nach dem Wegzug junger Spanier, Polen und Balten zahlen in den Städten Restaurant-, Hotel- und Pubbetreib­er plötzlich um bis zu 15 Prozent mehr Gehalt.

 ?? FOTO: GUSTAVO VALIENTE/PARSONS MEDIA/IMAGO IMAGES ?? Leere Gemüserega­le bei einer Tesco-filiale: In Großbritan­nien fehlen Lastwagenf­ahrer, die die Produkte zu den Supermärkt­en bringen.
FOTO: GUSTAVO VALIENTE/PARSONS MEDIA/IMAGO IMAGES Leere Gemüserega­le bei einer Tesco-filiale: In Großbritan­nien fehlen Lastwagenf­ahrer, die die Produkte zu den Supermärkt­en bringen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany