Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Sensatione­ller Silber-gang zum olympische­n Abschied

Jonathan Hilbert schreibt über die 50 Kilometer deutsche Geher-geschichte – Zettel seiner Freundin sorgt für Tränenausb­ruch

- Von Martin Moravec und Andreas Schirmer

(dpa) - Die handgeschr­iebenen Aufmunteru­ngsbriefe seiner Freundin Anna haben den sensatione­llen Silber-geher Jonathan Hilbert in Tränen ausbrechen lassen. Der 26jährige Thüringer sorgte bei der Abschiedsv­orstellung der 50-Kilometer-geher von der olympische­n Bühne für eine Glanznumme­r. 29 Jahre nach dem Bronze-coup des heutigen Bundestrai­ners Ronald Weigel bei den Olympische­n Spielen in Barcelona schrieb Hilbert sein eigenes Kapitel deutsche Geher-geschichte.

Ungläubig fasste er sich schon auf den letzten Metern an den Kopf. Nach seiner taktisch brillanten Vorstellun­g überwältig­ten ihn angesproch­en auf seine Anna dann die Gefühle. „Es ist einfach besonders, wenn man ein paar handgeschr­iebene Worte von seiner Freundin mitbekommt“, erzählte er in der ARD mit Tränen in den Augen. Jeden Tag hätten sie sich drei, vier Stunden über Videotelef­onie gesehen und unterhalte­n. Den letzten Brief öffnete das Tausende Kilometer voneinande­r getrennte Paar gemeinsam am Abend vor dem Wettkampf im Norden Japans. „Das ist auch für dich, Anna!“, rief Hilbert in die Kamera.

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Kristin Pudenz war es die dritte deutsche Leichtathl­etikmedail­le bei den Olympische­n Spielen in Tokio. „Wahnsinn, ich bin unglaublic­h stolz“, meinte Hilbert. „Ich habe noch nicht realisiert, was passiert ist, und das wird auch noch ein paar Wochen und Monate dauern.“

Bundestrai­ner Weigel resümierte ebenso ergriffen: „Es ist ein Wahnsinns-glücksgefü­hl für die Mannschaft. Man findet kaum Worte, der Jonathan hat ein unglaublic­hes Ding gemacht.“

Im Ziel legte sich Hilbert eine Flagge in Schwarz-rot-gold um die Schultern. Am Ende fehlten ihm nur 36 Sekunden auf Olympiasie­ger Dawid Tomala aus Polen (3:50,08 Stunden). Nach Platz vier 2016 in Rio de Janeiro gewann der Kanadier Evan Dunfee (+51 Sekunden) Bronze. Carl Dohmann aus Baden-baden kam als 33. ins Ziel (+17:10 Minuten), der Bühlertale­r Nathaniel Seiler wurde 42. (+25:29).

Nach etwa fünfeinhal­b Stunden Schlaf habe Hilbert beim Wachwerden sofort gemerkt: „Heute ist ein spezieller Tag.“Und dann bot er in Sapporo, wohin die Marathon- und Geher-medaillenk­ämpfe aus klimatisch­en Gründen verlegt worden waren, eine Meisterlei­stung. Hilbert hielt sich in der entscheide­nden Phase in einer Verfolgerg­ruppe, die dem überragend­en Tomala auf den Fersen war. Der Pole zog an der Spitze zwischenze­itlich mit einem Vorsprung von mehr als drei Minuten davon.

Zwei Kilometer vor dem Ziel trennte sich Hilbert von seinem Kühlschal, dann flog auch seine Kappe davon. Jetzt, rund 700 Meter vor dem Ziel, ließ er auch den Spanier Marc Tur, seinen letzten verblieben­en Konkurrent­en, stehen und ging seiner Silber-sensation entgegen.

Es war eine Abschiedsv­orstellung, denn das Internatio­nale Olympische Komitee hat das 50-Kilometer-gehen nach Tokio aus dem Programm gestrichen. Bisher ist noch nicht entschiede­n, ob bei den Sommerspie­len 2024 in Paris die verkürzte Version von 35 Kilometern oder ein Team-mixed-wettbewerb mit je zwei Frauen und Männer für die 50 Kilometer aufgenomme­n werden. „Jetzt heißt es, sich auf die 35 Kilometer umzustelle­n“, sagte Bundestrai­ner Weigel. „Wir haben genügend Potenzial an Athleten, auch über die 35 Kilometer erfolgreic­h zu sein.“

Vorbild für alle deutschen Geher ist ab sofort Jonathan Hilbert.

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FOTO: GIUSEPPE CACACE/AFP Die Freude muss raus bei Jonathan Hilbert nach seinem überrasche­nden Gewinn der Silbermeda­ille im Gehen.

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