Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Sensationeller Silber-gang zum olympischen Abschied
Jonathan Hilbert schreibt über die 50 Kilometer deutsche Geher-geschichte – Zettel seiner Freundin sorgt für Tränenausbruch
(dpa) - Die handgeschriebenen Aufmunterungsbriefe seiner Freundin Anna haben den sensationellen Silber-geher Jonathan Hilbert in Tränen ausbrechen lassen. Der 26jährige Thüringer sorgte bei der Abschiedsvorstellung der 50-Kilometer-geher von der olympischen Bühne für eine Glanznummer. 29 Jahre nach dem Bronze-coup des heutigen Bundestrainers Ronald Weigel bei den Olympischen Spielen in Barcelona schrieb Hilbert sein eigenes Kapitel deutsche Geher-geschichte.
Ungläubig fasste er sich schon auf den letzten Metern an den Kopf. Nach seiner taktisch brillanten Vorstellung überwältigten ihn angesprochen auf seine Anna dann die Gefühle. „Es ist einfach besonders, wenn man ein paar handgeschriebene Worte von seiner Freundin mitbekommt“, erzählte er in der ARD mit Tränen in den Augen. Jeden Tag hätten sie sich drei, vier Stunden über Videotelefonie gesehen und unterhalten. Den letzten Brief öffnete das Tausende Kilometer voneinander getrennte Paar gemeinsam am Abend vor dem Wettkampf im Norden Japans. „Das ist auch für dich, Anna!“, rief Hilbert in die Kamera.
Nach Gold für Malaika Mihambo im Weitsprung und Silber für Diskuswerferin
Kristin Pudenz war es die dritte deutsche Leichtathletikmedaille bei den Olympischen Spielen in Tokio. „Wahnsinn, ich bin unglaublich stolz“, meinte Hilbert. „Ich habe noch nicht realisiert, was passiert ist, und das wird auch noch ein paar Wochen und Monate dauern.“
Bundestrainer Weigel resümierte ebenso ergriffen: „Es ist ein Wahnsinns-glücksgefühl für die Mannschaft. Man findet kaum Worte, der Jonathan hat ein unglaubliches Ding gemacht.“
Im Ziel legte sich Hilbert eine Flagge in Schwarz-rot-gold um die Schultern. Am Ende fehlten ihm nur 36 Sekunden auf Olympiasieger Dawid Tomala aus Polen (3:50,08 Stunden). Nach Platz vier 2016 in Rio de Janeiro gewann der Kanadier Evan Dunfee (+51 Sekunden) Bronze. Carl Dohmann aus Baden-baden kam als 33. ins Ziel (+17:10 Minuten), der Bühlertaler Nathaniel Seiler wurde 42. (+25:29).
Nach etwa fünfeinhalb Stunden Schlaf habe Hilbert beim Wachwerden sofort gemerkt: „Heute ist ein spezieller Tag.“Und dann bot er in Sapporo, wohin die Marathon- und Geher-medaillenkämpfe aus klimatischen Gründen verlegt worden waren, eine Meisterleistung. Hilbert hielt sich in der entscheidenden Phase in einer Verfolgergruppe, die dem überragenden Tomala auf den Fersen war. Der Pole zog an der Spitze zwischenzeitlich mit einem Vorsprung von mehr als drei Minuten davon.
Zwei Kilometer vor dem Ziel trennte sich Hilbert von seinem Kühlschal, dann flog auch seine Kappe davon. Jetzt, rund 700 Meter vor dem Ziel, ließ er auch den Spanier Marc Tur, seinen letzten verbliebenen Konkurrenten, stehen und ging seiner Silber-sensation entgegen.
Es war eine Abschiedsvorstellung, denn das Internationale Olympische Komitee hat das 50-Kilometer-gehen nach Tokio aus dem Programm gestrichen. Bisher ist noch nicht entschieden, ob bei den Sommerspielen 2024 in Paris die verkürzte Version von 35 Kilometern oder ein Team-mixed-wettbewerb mit je zwei Frauen und Männer für die 50 Kilometer aufgenommen werden. „Jetzt heißt es, sich auf die 35 Kilometer umzustellen“, sagte Bundestrainer Weigel. „Wir haben genügend Potenzial an Athleten, auch über die 35 Kilometer erfolgreich zu sein.“
Vorbild für alle deutschen Geher ist ab sofort Jonathan Hilbert.