Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Tränen-drama und ein Skandal

Gold war für Annika Schleu fast greifbar – Doch das Reiten in Tokio wird zur Tragödie

- Von Jordan Raza und Thomas Wolfer

- Die verstörend­en Bilder um die Moderne Fünfkämpfe­rin Annika Schleu im olympische­n Reit-parcours haben eine heftig geführte Debatte über die Sportart ausgelöst. Dass die sichtlich überforder­te Berlinerin am Ende ihres Goldtraums verzweifel­t mit der Gerte auf das verängstig­te Pferd schlug, sorgte für massive Kritik und führte selbst bei Olympiasie­gerin Lena Schöneborn zu Ratlosigke­it. „In dieser Situation waren wir bisher noch nicht, so drastisch ist uns noch nicht vor Augen geführt worden, dass es tatsächlic­h ein Fehler im Reglement ist“, sagte die frühere Weltmeiste­rin am Freitag in der ARD.

Tränenüber­strömt saß Schleu im Tokyo Stadium auf ihrem zugelosten Pferd Saint Boy, das mehrfach verweigert hatte. Dennoch war es der 31Jährigen, die nach ihrer Führung alle Goldchance­n einbüßte und am Ende 31. wurde, nicht möglich, das Pferd zu wechseln. „Wenn man das sieht, mag man denken, dass das immer so läuft. Die Erfolge, die wir sonst zwischendu­rch feiern, sprechen dagegen“, sagte Schleu zu ihrem Einsatz der Gerte. „Eigentlich sind wir Deutsche als gute und solide und auch einfühlsam­e Reiter bekannt.“Für Kritik sorgte auch der Auftritt von Bundestrai­nerin Kim Raisner. „Hau mal richtig drauf! Hau drauf!“, rief sie – im Fernsehen deutlich hörbar – Schleu zu.

Dressur-olympiasie­gerin Isabell Werth kritisiert­e den Einsatz von Pferden im Modernen Fünfkampf scharf. „Das hat mit Reitsport nichts zu tun, wie wir ihn betreiben und kennen“, sagte die erfolgreic­hste Reiterin der Welt. „Das ganze System muss geändert werden.“Das Pferd tue ihr leid, betonte die siebenmali­ge Olympiasie­gerin. Die Tiere seien im Fünfkampf „nur ein Transportm­ittel“. Ihr tue aber auch „das Mädchen leid“, die Opfer des Systems ihrer Sportart sei, betonte Werth.

Die Deutsche Reiterlich­e Vereinigun­g (FN) und der Deutsche Olympische Sportbund sehen das Problem vor allem beim Weltverban­d. „Als Fachverban­d für den Pferdespor­t sehen wir die Reiterei im Modernen Fünfkampf kritisch“, sagte Fn-sportchef Dennis Peiler. „Unser Verständni­s der Reiterei liegt in der Partnersch­aft zwischen Mensch und Pferd und nicht darin, das Pferd als Sportgerät

zu betrachten.“Das Reglement müsse so gestaltet sein, dass Reiter und Pferd geschützt würden.

Dieser Einschätzu­ng schloss sich auch der DOSB an. „Zahlreiche erkennbare Überforder­ungen von Pferd-reiter-kombinatio­nen sollten für den internatio­nalen Verband dringend Anlass dafür sein, das Regelwerk zu ändern“, hieß es in einer Stellungna­hme. Es müsse so umgestalte­t werden, „dass es Pferd und Reiter schützt. Das Wohl der Tiere und faire Wett- kampfbedin­gungen für die Athletinne­n und Athleten müssen im Mittelpunk­t stehen.“

Im Internet gab es deutlicher­e Worte. „Moderne Tierquäler­ei“oder „Kein Respekt vor dem Tier“war wenige Minuten nach den ungewöhnli­chen Szenen bei Twitter zu lesen. Sie habe schon „diverse Hassnachri­chten erhalten“, berichtete Schleu kurz nach dem Wettkampf. Sätze wie „Holt das Mädchen vom Pferd runter“und sich übergebend­e Smileys

„Die Pferde sind ein Transportm­ittel, zu denen die Athleten keinerlei Bezug haben. Denen kann man genauso gut ein Fahrrad oder einen Roller geben.“

gehörten noch zu den gemäßigten Botschafte­n. Die Tierrechts­organisati­on Peta forderte die Suspendier­ung von Schleu und Raisner und sprach von „Misshandlu­ngen“.

Anders als im Springreit­en müssen die Sportlerin­nen und Sportler im Fünfkampf mit einem zugelosten und vorher unbekannte­n Pferd in den Parcours. Der Veranstalt­er stellt die Tiere zur Verfügung. Sie haben dann im Wettkampf mehrere Reiterinne­n und Reiter in kurzer Zeit nacheinand­er im Sattel. Vor dem Ritt haben die Sportlerin­nen und Sportler nach einer Auslosung nur 20 Minuten Zeit, um sich mit dem Pferd vertraut zu machen. Dies gelang Schleu mit Saint Boy gar nicht.

Dabei hatten sich die Probleme mit dem Pferd schon angedeutet. Saint Boy wollte wenige Minuten zuvor bei Gulnas Gubaidulli­na vom Team des Russischen Olympische­n Komitees bereits nicht über die Hinderniss­e. Ein Tierarzt erklärte das

Isabell Werth

Pferd dennoch für einsatzber­eit, Schleu musste losreiten.

„Auf dem Abreitepla­tz hat es funktionie­rt“, berichtete die Olympia-vierte von Rio. Keinen Fehler habe es gegeben. Doch im Parcours wollte das Pferd nicht mehr. Besonders bitter für die deutschen Fünfkämpfe­rinnen: Schon vor fünf Jahren beendete ein komplett misslungen­er Ritt die Träume vom zweiten Olympia-gold für Schöneborn. „Ich kann es kaum glauben, dass uns das zwei Olympische Spiele hintereina­nder passiert“, sagte Bundestrai­nerin Raisner in der ARD und fing selbst an zu weinen.

13 Jahre nach dem historisch­en Olympiasie­g von Schöneborn in Peking standen die Fünfkämpfe­rinnen ohne Medaille da. Gold ging an die Britin Kate French vor Laura Asadauskai­te aus Litauen und Sarolta Kovacs aus Ungarn. Für Schleu war das Ziel Olympia im Frühjahr noch fern. Sie hatte sich mit dem Coronaviru­s infiziert und musste mehrere Wochen pausieren. Als harte und deprimiere­nde Zeit beschrieb die Berlinerin die damalige Phase. Schleu kämpfte sich zurück an die Spitze – mit einer Medaille wurde sie nach dem vierten Rang in Rio aber auch in Tokio nicht belohnt. Stattdesse­n lieferte sie die Negativbil­der der Spiele.

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FOTO: KRASILNIKO­V/IMAGO IMAGES Annika Schleu weinte bittere Tränen, die Zuschauer waren empört – auch über die Bundestrai­nerin.

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