Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Der olympische Widerstand ist im Alltag zerbröselt
Japanische Bevölkerung hatte sich mit den Spielen abgefunden – Das Land sitzt auf gewaltigem Schuldenberg
- Aus Sicht der japanischen Regierung ist am Ende das meiste gutgegangen. Die gefürchtete Pandemiewelle konnte durch drastische Einschränkungen mehr oder weniger gebrochen werden. Der anfänglich überwältigende Unmut von bis zu 80 Prozent der Bevölkerung ist im Alltagsleben vieler Japaner einfach untergegangen. Es gab weder gewaltsame Proteste noch Ausfälle gegen die Olympioniken aus aller Welt.
Lediglich der in Tokio häufig instinktlos agierende IOC-CHEF Thomas Bach kommt im öffentlichen Bewusstsein der Gastgeber als derjenige vor, der die Olympischen Spiele gegen allen Widerstand und auch vernünftige Argumente durchgedrückt hat. Und am Schluss wird die Weigerung des IOC, ein offizielles Gedenken der Atombombenopfer von Hiroshima am 6. August zuzulassen, den olympischen Funktionären noch lange angelastet werden.
So gesehen wird Tokio 2020 (wenn auch 2021) als schadenbegrenztes Nebenschauspiel in die olympische Geschichte eingehen. Am Ende setzte sich die Meinung durch, lasst sie das Spektakel doch veranstalten, wir haben eh nur wenig damit zu tun. So sehen es jedenfalls die meisten japanischen Medien, die nach den Erfolgen ihrer Sportler ihre breite Anti-haltung ebenfalls aufgegeben hatten. Allerdings stellt sich auch hier die Frage nach dem Sinn eines solchen Mega-events, vor allem unter konkreten Bedingungen von Corona und Zuschauerausschluss.
Haben sich Aufwand und Nutzen wirklich gelohnt? Diese Frage wird in der Folge von vielen Steuerzahlern gestellt und vermutlich negativ beantwortet werden. Denn eines steht fest: Der große Verlierer ist die japanische Staatskasse, also sprich der Normalbürger. Kritiker haben von Anfang an gewarnt, das wird ein Fass ohne Boden. Fast fühlt man sich an das populäre Trinklied erinnert: Wer soll das bezahlen, wer hat das bestellt? Normalerweise ist dieser Song ein Stimmungskracher für das Publikum. Aber die Kosten für die olympischen Sommerspiele in Tokio wirken eher als brutale Spaßbremse.
Selbst bei konservativer Berechnung stehen nach Kassensturz unter dem Strich der Veranstalter mindestens 15,4 Milliarden Dollar Verlust, verschlungen von einem Event, das die klare Mehrheit der Japaner lange als pure Verschwendung vehement abgelehnt hat. Allein die pandemieverschuldete Verschiebung um ein Jahr schlägt mit mindestens drei Milliarden Dollar zu Buche. Und die Kostenspirale ist noch lange nicht auf ihrem Zenit. Eigentlich sollten auf der Habeseite etwa 815 Millionen
Dollar aus dem direkten Ticketverkauf stehen. Nach der Absage auch für das einheimische Publikum wird daraus garantiert nichts.
Für die Geldgeber aus der Wirtschaft sind diese Spiele quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit ohnehin ein Minusgeschäft. Der erhoffte Rückenwind für die geplante Werbung dürfte die Erwartungen der Sponsoren nicht einmal annähernd erfüllen. Mehr als 60 Konzerne und Firmen allein aus Japan spendeten den „Geisterspielen“von Tokio weit über drei Milliarden Dollar.
Am härtesten traf der Ausschluss des internationalen Publikums aber wohl die Konsumbranche und besonders den lokalen Tourismus. Seit Pandemiebeginn vor mehr als einem Jahr ist die Einreise ausländischer Gäste strikt verboten. Noch 2019 gaben fast 32 Millionen Reisende, vor allem Chinesen und Südkoreaner, etwa 44 Milliarden Dollar für Japantrips aus. Im vergangenen Jahr sackte diese Zahl um 87 Prozent auf gerade einmal vier Milliarden Dollar ab, was einem 22-Jahre-tief entspricht.
Eine Trendwende ist auch nach den Olympischen Spielen nicht in Sicht. Noch immer herrscht für den Großraum Tokio und angrenzende Präfekturen der Corona-notstand. Auch wenn sich manche Japaner wenig daraus machen und ihr normales Leben feiern, macht sich eine Katerstimmung breit. Prognosen gehen davon aus, dass der Schuldenberg erst frühestens in 30 Jahren abgebaut sein kann. Der nationale Rechnungshof hatte in einem internen Bericht schon vor drei Jahren gewarnt, dass die Olympischen Spiele den japanischen Steuerzahler insgesamt vermutlich 25 Milliarden Dollar oder noch mehr kosten könnten. Sehr viel Geld für wenig Spaß!
Abseits vom rein Sportlichen sowie der Freude und dem Schweiß der Athleten haben Olympische Spiele vermutlich sehr viel von ihrem völkerverbindendem Charme und ihrer politischen Relevanz eingebüßt. So waren die Spiele von Tokio 1964 für die Japaner enorm wichtig. Sie symbolisierten sowohl den sensationellen ökonomischen Aufschwung nach dem verlorenen Weltkrieg als auch den globalen Respekt für das fernöstliche Kaiserreich. Bis dahin galt der Staat Nippon als militaristisches Monster, das in Asien Tod und Verderben zu verantworten hatte – anschließend als weltoffene Demokratie.
Heute hat die inzwischen drittgrößte Volkswirtschaft der Welt eine solche Demonstration gar nicht mehr nötig. Verhältnismäßig reiche Länder wie Japaner brauchen auch keinen Vorwand, um Infrastruktur zu erneuern oder gar zu erschaffen, die ohnehin vorgesehen war. Die Frage ist vielmehr, was wird aus den modernen Wettkampf- und Wohnstätten? Das olympische Dorf ist längst als Stadt von Eigentumswohnungen im Zentrum von Tokio verkauft. Aber was wird aus den großen Stadien? Bei anderen Spielen wuchert dort heute das Unkraut und erinnert allenfalls an ein überflüssiges Event. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es Tokio ebenso ergeht.