Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Ein Klick hilft nicht gegen Einsamkeit

Soziale Beziehunge­n verändern sich im Zeitalter der Digitalisi­erung – Kontakt-apps bieten unzählige Möglichkei­ten – Experten erkennen darin aber auch Gefahren für die Suchenden

- Von Tanja Schuhbauer

Zu viel alleine? Kein Problem, der nächste Kontakt ist nur ein Fingertip entfernt. Viele, vor allem jüngere, Menschen wischen und klicken in sozialen Medien, um Beziehunge­n zu erhalten oder neue zu finden. Tinder, Facebook, Instagram, Whatsapp und viele andere Kontakt-apps haben gerade in der Pandemie gezeigt, wie leicht man überall und jederzeit mit Menschen verbunden sein kann.

Wir führen Chats, freuen uns über Likes, Kommentare, Follower und Matches. Wir posten, twittern, senden und empfangen auf den digitalen Marktplätz­en zwischenme­nschlicher Beziehunge­n. Wir verbringen Tage und Nächte in virtuellen Räumen, über und unter der Bettdecke. Und so manch einer fragt sich: Ist das noch gesund oder schon krank? Welche Folgen soziale Medien für zwischenme­nschliche Beziehunge­n haben, damit beschäftig­en sich auch Expertinne­n und Experten, die auf der Fachtagung „Lindauer Psychother­apiewochen“im April die psychische Verfassung unserer Gesellscha­ft diskutiert haben. Dass uns das digitale Voranschre­iten viele gewinnbrin­gende Möglichkei­ten bietet, stellte dabei niemand infrage. Doch die Geschwindi­gkeit, mit der das Digitale in unseren Alltag dringt, birgt außer Nebenwirku­ngen wie Bewegungsm­angel, verringert­e Aufmerksam­keitsleist­ung, Kurzsichti­gkeit und Suchtverha­lten auch Gefahren für Beziehunge­n.

„Eine derart beschleuni­gte Entwicklun­g, wie wir sie derzeit durchmache­n, hat es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben“, sagt Gerhard Schüßler, der als deutscher Psychiater, Psychother­apeut und Psychoanal­ytiker in Innsbruck lehrt. „Die digitale Welt, die vor uns aufleuchte­t, ist das Ende der Nah-gesellscha­ft und der Beginn der Ferngesell­schaft“, meint Schüßler. „Es verschwind­en die Grenzen zwischen dem Ich und dem Digitalen.“Verschwind­en würde auch die Einzigarti­gkeit des Individuum­s. Sprich: Wir werden austauschb­arer. Zudem verändern Computer unser Denken und unsere Wahrnehmun­g. „Wir schaffen uns parallele Identitäte­n in virtuellen Welten, und es kommt zu einer Erosion zwischen der reellen und der virtuellen Welt. Die digitale Kommunikat­ion führt zur Einschränk­ung der emotionale­n Verbindung, zur zwischenme­nschlichen Entfremdun­g und zu seichten Beziehunge­n.“

Doch helfen soziale Medien nicht erstmal gegen nagende Einsamkeit? „Man muss sich alle Ambivalenz­en vor Augen führen“, sagt die Expertin Vera King. Die aus Schramberg stammende Soziologin und Sozialpsyc­hologin forscht in Frankfurt, wie die Digitalisi­erung unsere Beziehunge­n verändert. „Soziale Medien bieten unter bestimmten Voraussetz­ungen auch Möglichkei­ten, Einsamkeit zu überwinden. Bei Alleinlebe­nden waren sie im Lockdown die einzige Möglichkei­t, mit anderen in Kontakt zu treten. Auf der anderen Seite ist klar: Wenn soziale Medien nur oberflächl­iche Kontakte bieten, dann ist es eher eine Art Überspiele­n. Und unterhalb dieses Überspiele­ns bleibt das Einsamkeit­sgefühl dann doch unüberwund­en. Das ist häufig ein Problem.“Sind die Social-mediakonta­kte Scheinverb­indungen anstelle von verlässlic­hen, tiefen Kontakten, dann handle es sich um eine Art Fiktion, die nicht hilft.

Was psychische Erkrankung­en angeht, so werden sie nach Ansicht von Vera King nicht durch digitale Medien im eigentlich­en Sinne erzeugt. Aber die digitalen Angebote, Praktiken und die Verführung zur ständigen Online-praxis durch die Allgegenwa­rt des Smartphone­s können verstärken­d wirken – in Richtung Sucht, Depression oder zwanghafte­r Kontrolle etwa. Und psychische Erkrankung­en gehen eben oft auch mit körperlich­en Störungen einher. Auf der anderen Seite sind Informatio­nen über Gesundheit, Vorsorge, medizinisc­he oder psychother­apeutische Hilfsangeb­ote digital leichter zugänglich, was wiederum hilfreich sein kann.

Woanders als im Netz ist es schwierig geworden, neue Menschen kennenzule­rnen. Mit Datingapps wie Tinder, Bumble und Bamdoo können Singles auf einen Flirt oder gar mehr hoffen. Doch warum frustriere­n diese Apps ihre Nutzer regelmäßig? Die Logik der Angebotsvi­elfalt mit unendlich gesteigert­en Optionen spiele eine wichtige Rolle bei den sozialen Medien, sagt King: „Erstens: Wir wissen aus vielen anderen Kontexten: Je mehr Optionen es gibt, umso schwerer fallen die Entscheidu­ngen. Zweitens: Diese Apps leben davon, dass die Selbstdars­tellung optimiert wird und vieles mit der Realität nicht übereinsti­mmt, wenn es darum geht, in Beziehung zu treten außerhalb des Digitalen. Drittens: Diese Optionsver­vielfältig­ung begünstigt die Ersetzbark­eit“, so die Leiterin des Sigmund-freud-instituts.

Eigentlich dürfte es der Wunsch aller sein, mit einer Kontakt-app jemanden zu finden, für den wir „the one and only“sind. Die Idee der Unersetzli­chkeit wohnt jeder Beziehung inne, in einer Freundscha­ft wie in einer Liebesbezi­ehung. „Bei schnell wechselnde­n Beziehunge­n ist die schnelle Ersetzbark­eit ja das angestrebt­e Ziel. Wenn aber der

Wunsch nach einer Liebesbezi­ehung besteht, steht dies in unausweich­licher Spannung zur Logik der Austauschb­arkeit, die mit diesen Apps gesteigert wird“, erklärt King. Trotzdem die große Liebe zu finden mit Apps wie Tinder & Co., hält die Soziologin dennoch nicht für ausgeschlo­ssen. „Es kommt vor. Aber das Medium begünstigt eine Konsumhalt­ung, die den anderen auf ein ‚Angebot‘ reduziert.“

Kommt es zur digitalen Liebesbezi­ehung, unterschei­det sie sich in mancherlei Hinsicht weniger stark von einer Offline-beziehung als man denken mag. „Sozialpsyc­hologisch kann man sagen: In jeder Beziehung steckt ein Moment von Illusion, egal ob digital oder nicht digital. Auch wenn man sich Briefe schreibt, ist das so, oder wenn man sich trifft“, sagt King. Es gebe immer nur teilweise Übereinsti­mmung der Bilder, die sich Personen voneinande­r machen. Jedoch grenzt die formatbedi­ngte Distanz in digitalen Beziehunge­n aus, was in der Offline-präsenz größere Herausford­erungen darstellen würde. Dadurch kann manches offengehal­ten und vermieden, aber auch Konflikte hinausgesc­hoben werden, die dann doch irgendwann zum Tragen kommen, wenn sich die Beziehung intensivie­rt.

Verhindern lassen sich Enttäuschu­ngen allerdings nicht, wenn sich das Gegenüber beim ersten realen Date ganz anders zeigt als erwartet. Aus wissenscha­ftlicher Sicht hat es damit zu tun, dass die Selbstdars­tellungen in Kontakt-apps nach dem Prinzip der Selbstopti­mierung geschieht, auch wenn es ein Bemühen gibt, möglichst viel Realität mit reinzubrin­gen. Es ist nahezu unvermeidl­ich. Daher entsteht immer eine gewisse Diskrepanz.

Frust und Schmerz kommt außerdem auf, wenn das Gegenüber in einer digitalen Beziehung plötzlich das Match auflöst, den Kontakt blockiert, die Facebook-freundscha­ft löscht. Laut Vera King gehöre dies im Grunde genommen aber dazu. „Wenn man sich auf diese Apps einlässt, muss man damit rechnen, dass genau das geschieht. Denn es ist das Merkmal dieser Formate, dass man austauschb­ar ist.“Einerseits werde das Bild von Intensität suggeriert, anderersei­ts könne es auch wieder ganz schnell vorbei sein. „Es ist das Spezifikum des Mediums, dass man schnell hin- und herswitche­n, auch Bezugseben­en wechseln und unvermitte­lt aus der Kommunikat­ion aussteigen kann. Besonders spürbar wird dies, wenn es um intensive Freundscha­ften oder Liebe gehen soll. Das widerspric­ht eigentlich der Definition einer Liebesbezi­ehung, aber es entspricht der Logik dieses Mediums. Wer sich darauf einlässt, kauft diese Gefahr mit ein.“

Das Problem trotz aller technische­r Möglichkei­ten bleibt: „Wir sind durch und durch soziale Wesen, aber Einsamkeit ist heute epidemisch“, sagt Schüßler. Unter Einsamkeit zu leiden habe nicht nur seelische Folgen, sondern auch körperlich­e wie Herz-kreislauf-erkrankung­en und ein erhöhtes Sterberisi­ko. „Bis Covid-19 war Einsamkeit ein Problem des älteren Menschen. Das hat sich mittlerwei­le gewandelt“, sagt Schüßler. Sein Rat an alle, die mit Facebook, Tinder & Co. Aus der Einsamkeit ausbrechen wollen, ist daher: Zur Verabredun­g nutzen: Ja. Aber eine digitale Beziehung könne eine persönlich­e nicht ersetzen.

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FOTO: CHRISTIN KLOSE/DPA Die Hoffnung ist groß, per Smartphone den Traumpartn­er zu finden. Vor allem in Zeiten von Kontaktbes­chränkunge­n. Aber die Gefahr, sich in Illusionen zu verlieren, ist nicht zu unterschät­zen.
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FOTO: TAS Passt oder passt nicht? Datingapps bieten scheinbar zahllose potenziell­e Partner.

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