Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Unberechenbare Momente vermeiden
Derzeitige Brunftzeit erhöht das Risiko von Verkehrsunfällen mit Rehwild
- Eine seltsame Häufung von Wildunfällen ereignete sich Ende vergangener Woche: Gleich siebenmal kollidierten Autos mit Wildtieren auf den Straßen im Landkreis Biberach. Im gesamten Hoheitsgebiet des Polizeipräsidiums wurden sogar 13 solcher Unfälle gemeldet. Auch wenn nach Angaben der Polizei keine Menschen zu Schaden gekommen sind, ließen innerhalb zwei Tagen gleich drei Rehe ihr Leben auf Straßen in der Region Riedlingen: Am vergangenen Donnerstag rannte ein Reh von rechts in ein Auto, als ein 39-Jähriger gegen 18.30 Uhr von Dieterskirch nach Uttenweiler fuhr. Eine dreiviertel Stunde später prallte ein Porschefahrer mit einem Reh auf der Bundesstraße 311 zwischen Obermarchtal und Datthausen zusammen. Und am Samstagfrüh gegen 4.30 Uhr verletzte ein 62-jähriger Autofahrer ein Reh bei Marbach tödlich, das von links unter die Räder des Fahrzeugs geriet.
Ein möglicher Risiko-faktor für Zusammenstöße von Fahrzeugen und Rehwild ist die Zeit der Hochbrunft. „Seit Ende Juli treiben Böcke die Geise durch den Wald, um sich zu paaren. Da laufen die Tiere schon blind über die Straße“, sagt Petra Reidel, Hobbyjägerin und Wildexpertin aus Möhringen. Zugleich spielten allerdings noch andere Bedingungen eine wichtige Rolle, warum vermehrt solcher Geschöpfe auf Straßen auftauchten. „Besonders an Waldrändern bewegt sich Rehwild oft in Zeiten der Dämmerung. Eine weitere Hochphase für Unfälle herrscht kurz nach Zeitumstellungen“, erklärt Reidel. Denn aus der Perspektive der Tiere ändere sich der tägliche Verkehrsfluss, zum Beispiel von Berufspendlern. Infolgedessen kommt es zu verstärktem Wildwechsel.
Laut dem jüngsten Jagdbericht Baden-württemberg kamen in der Saison 2018/19 offiziell 19 782 Rehe, Böcke und Kitze auf den Straßen des Landes ums Leben. So viele wie bislang noch nie. Aktuelle Zahlen gibt es allerdings nicht, „der Bericht für 2020/21 ist noch in Arbeit“, sagt Erhard Jauch, Hauptgeschäftsführer des Landesjagdverbands Badenwürttemberg. Im Sommer prallten Fahrzeuge öfter mit Wildtieren zusammen als im Winter. Neben den genannten Ursachen ist auch der wachsende Autoverkehr einer der Gründe für mehr Kollisionen.
Die Menge von Unfällen im Landkreis Biberach, in denen Wildtiere involviert waren, werden von der unteren Naturschutzbehörde auf Basis der gemeldeten toten Tiere erhoben. Peter Lindroth, stellvertretender Leiter der Wildforschungsstelle Aulendorf, hat sich die Statistik genau angesehen und stellt fest, die Zahl des von Autos oder Lkw getöteten Rehwilds sei hoch im Verhältnis zu anderen Wildtierarten, aber seit Jahren konstant. Generell hätten Unfälle mit Schwarzwild deutlich zugenommen. „Ein Zusammenstoß mit Wildschweinen kann zu erheblichen Schäden führen. Die gehen teilweise auch über Autobahnen.“
Trotzdem schätzen Experten, dass die Dunkelziffer von getöteten Wildtieren viel höher ist als die offiziellen Zahlen. Das Tierfund-kataster, ein bundesweites Projekt der Landesjagdverbände zur besseren Erfassung von auf der Straße verendeten Wilds, spricht von bis fünfmal mehr toten Tieren als in den Statistiken ausgewiesen. „Bei sogenannten Bagatellunfällen mit diesen Lebewesen, die geringen Sachschaden zur Folgen haben, wird die Polizei oft gar nicht informiert“, sagt Martin Strein von der Wildunfallprävention der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-württemberg.
Deshalb arbeiten Förster, Wissenschaftler, Jäger und Politiker verstärkt an Präventionsstrategien, damit es erst gar nicht zu gefährlichen Situationen bei Wildwechsel kommt. Seit Jahren sind auf zahlreichen, bestimmten Straßenabschnitten blaue Wildwarnreflektoren an Begrenzungspfosten montiert. Experten sind sich uneinig, ob sie überhaupt eine Wirkung haben: Die Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt hat in einem wissenschaftlichen Projekt gezeigt, diese Maßnahmen hätten keine Wildunfälle verhindert.
Erhard Jauch vom Landjagdverband sagt, es habe vereinzelt Erfolge gegeben, aber Tiere gewöhnten sich an das bläuliche Licht, das von dem Pfosten reflektiert werde. Vielversprechender
sind elektronische Wildwarnanlagen. Ein Pilotprojekt wurde beispielsweise auf der Bundesstraße 292 nordwestlich von Heilbronn realisiert: Wenn Rehe am Straßenbereich auftauchen, werden Sensoren aktiviert. Diese geben Impulse an ein System, das beleuchtete Warnsignale steuert und Autofahrer auffordert, das Tempo zu verringern. Auch Wildschutzzäune an vierspurigen Abschnitten der Bundesstraße 30 im Landkreis Biberach gibt es.
Künftig wollen sich Experten landesweit stärker auf Orte konzentrieren, an denen immer wieder Wildunfälle passieren. „Ein interministerieller Arbeitskreis mit Teilnehmern des Ministeriums für Ländlichen Raum, Innen- und Verkehrsministerium beabsichtigt, in den Modellregionen Ortenau- und Enzkreis gezielt Maßnahmen zu ergreifen. Sie sollen die Zahl der Wildunfälle minimieren“, sagt Martin Strein. Dazu gehörte eine bessere Verkehrsplanung von Straßen: Autofahrer sollen Verkehrswege besser einblicken können, der Abstand zwischen Wald und Straßen vergrößert werden. „Ein zentrales Anliegen ist ein Tempolimit. Bei geringeren Geschwindigkeiten haben Autofahrer mehr Zeit, zu reagieren. Der Bremsweg ist kürzer.“Das Projekt wird vermutlich in zwei Jahren erste belastbare Ergebnisse liefern.
Generell rät die Polizei zu besonderer Vorsicht auf Straßen. Verkehrsschilder warnen vor Wildwechsel. Die weitere Devise lautet: Abblenden, das Fahrzeug langsam, aufmerksam und bremsbereit steuern.
Wie sollen sich Autofahrer verhalten, wenn sie in eine Kollision mit einem Wildtier verwickelt sind? „Unfallstelle absichern, Warnblinklichter einschalten und die Polizei informieren“, sagt Petra Reidel. Wer die Polizei nicht informiere, müsse damit rechnen, dass die Versicherung den Schaden nicht bezahle. „Wildtiere sollten außerdem keinenfalls angefasst oder mitgenommen werden. Sie können in Panik geraten“. Die Polizei informiere den Jagdpächter, der verletzten Tieren nachgeht und erschießt, wenn diese sich in den Wald flüchten.