Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Biden schickt doch noch einmal Soldaten nach Kabul

Marine-infanteris­ten sollen Us-bürger vor herannahen­den Taliban in Sicherheit bringen

- Von Frank Herrmann

- Die Bilder haben sich eingebrann­t ins kollektive Gedächtnis der Amerikaner. Saigon, April 1975: Auf dem Dach eines Gebäudes parkt ein Hubschraub­er, während einige Dutzend Fliehende, zu viele für den kleinen Helikopter, verzweifel­t hoffen, an Bord klettern zu dürfen. Es war nicht das Dach der Usbotschaf­t, wie es hinterher bisweilen hieß. Vielmehr handelte es sich um ein Quartier der CIA. Jedenfalls symbolisie­rten die Bilder der panikartig­en Flucht vor den heranrücke­nden Nordvietna­mesen, was für ein Fiasko die Supermacht in Südostasie­n erlitten hatte.

Szenen wie diese will Joe Biden vermeiden, wenn er bis zum Wochenende rund 3000 Soldaten nach Kabul schickt, damit sie absichern, was ein Sprecher des State Department eine „geordnete Reduzierun­g“hin zu einer „diplomatis­chen Kernpräsen­z“nennt. An der Botschaft in Kabul, einer der größten weltweit, waren noch im Juli rund 4000 Menschen beschäftig­t, 1400 von ihnen amerikanis­che Staatsbürg­er. Hinzu kommen Mitarbeite­r von Hilfsorgan­isationen und Afghanen, die für die Amerikaner gearbeitet haben und nach einem Einmarsch der Taliban Repressali­en befürchten müssen. Die Militärs, die meisten Marineinfa­nteristen, die bei ihrer Evakuierun­g helfen sollen, werden am Flughafen Kabuls stationier­t. Pentagon-sprecher John Kirby spricht von einem „klar begrenzten“Auftrag, darauf fokussiert, Leute außer Landes zu bringen. „Dies ist kein Kampfeinsa­tz“, betont er.

Für den Fall, dass sich der Schritt als nicht ausreichen­d erweist, lässt Biden Einheiten der 82. Luftlanded­ivision,

rund 4000 Soldaten, aus Fort Bragg in North Carolina nach Kuwait verlegen. Sollten auch sie schließlic­h nach Afghanista­n beordert werden, hätte die Truppenstä­rke der USA am Hindukusch die Marke von 7000 erreicht. Das Kontingent wäre dann doppelt so groß wie im April, als der Präsident den Rückzug verkündete, einen vollständi­gen Abzug bis Ende August.

Medienberi­chten zufolge hat Biden bereits am Mittwochab­end nach Beratungen des Nationalen Sicherheit­srates beschlosse­n, die Verstärkun­g zwecks Evakuierun­g anzuordnen. Am Donnerstag präsentier­ten ihm Sicherheit­sberater Jake Sullivan und Verteidigu­ngsministe­r Lloyd Austin konkrete Optionen, unter denen er einen Mittelweg gewählt haben soll. Hinter der Entscheidu­ng steht die bittere Erkenntnis, dass die vom Westen ausgebilde­te und ausgerüste­te Armee Afghanista­ns vielerorts einfach zerfällt, statt den Vormarsch der Taliban zu stoppen. Das Tempo, mit dem sie sich praktisch in Nichts auflöst, hat Biden offensicht­lich überrascht. Ursprüngli­ch hatten er und seine Berater angenommen, die Regierung Aschraf Ghanis in Kabul würde sich noch bis März, mindestens, an der Macht halten. Biden hat denn auch immer wieder betont, dass die 300 000 Mann starken Regierungs­truppen eigentlich in der Lage sein müssten, den schätzungs­weise 75 000 Kämpfern der Radikalisl­amisten Paroli zu bieten, zumal sie – anders als ihre Gegner – über eine Luftwaffe verfügen.

An die Stelle vorsichtig optimistis­cher Einschätzu­ngen ist die komplette Ernüchteru­ng getreten. Laut „New York Times“rechnet man im Weißen Haus damit, dass in den nächsten Tagen auch Masar-i-scharif fällt, die größte Stadt des Nordens, und die Zentralmac­ht in Kabul noch im September kapitulier­en könnte. Die Stimmung an der Pennsylvan­ia Avenue, schreibt die Zeitung, sei eine Mischung aus Schock und Resignatio­n.

Gleichwohl lässt Biden bislang mit keiner Silbe erkennen, dass er an einschneid­ende Kurskorrek­turen denkt, zum Beispiel an eine Truppenent­sendung, deren Sinn nicht nur darin besteht, eine Flucht zu organisier­en. Bliebe man auf lange Sicht in Afghanista­n, riskiere man nur, im Sumpf eines Bürgerkrie­gs zu versinken, argumentie­ren seine Strategen. Umfragen belegen eine simple Tatsache: 20 Jahre nach dem Einmarsch ist eine Mehrheit der Amerikaner des Einsatzes in der asiatische­n Ferne müde. Nach einer Erhebung von ABC News halten 55 Prozent den Rückzug für richtig. Biden wiederum hofft, künftige Hilfsleist­ungen – beziehungs­weise das Abdrehen des Geldhahns – als Druckmitte­l nutzen zu können. Der „Washington Post“zufolge versuchen seine Unterhändl­er, den Taliban Garantien abzuringen, nach denen die Vorrückend­en auf Attacken gegen die Usbotschaf­t verzichten, falls sie Kabul erobern. Sollten sie den Gebäudekom­plex dennoch angreifen, würde jegliche Finanzhilf­e für Afghanista­n gestrichen.

Mitch Mcconnell, der Minderheit­sführer des Senats, spricht von einer naiven Hoffnung. Wenn Biden argumentie­re, ein Blutbad könnte dem internatio­nalen Ansehen der Taliban schaden, grenze das ans Absurde: „Als ob sich radikale Terroriste­n jemals um ihre Reputation geschert hätten.“Die Taliban, so der Republikan­er, wollten den militärisc­hen Sieg und blutige Vergeltung. Amerika, verlangt er, müsse die afghanisch­en Streitkräf­te ab sofort durch intensiver­e Luftschläg­e gegen die Miliz unterstütz­en. „Sonst feiern Al-qaida und die Taliban den 20. Jahrestag des 11. September, indem sie unsere Botschaft in Kabul niederbren­nen.“

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FOTO: GULABUDDIN AMIRI/DPA Patrouille der Taliban in Gasni: Die Provinzhau­ptstadt im Osten Afghanista­ns haben die Taliban bereits unter Kontrolle gebracht.

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