Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

USA geben ihr Botschafts­gebäude auf

Auch Parteifreu­nde kritisiere­n Entscheidu­ng von Präsident Biden zum Truppenabz­ug aus Afghanista­n

- Von Frank Herrmann

- Angesichts der dramatisch­en Ereignisse in Afghanista­n wächst in den USA die Kritik an der Entscheidu­ng von Präsident Joe Biden zum Truppenrüc­kzug. Unterdesse­n werden die Pläne für eine Evakuierun­g der Botschaft in Kabul hastig an die neuen Realitäten angepasst.

Als John Allen das Kommando der Isaf übernahm, der Nato-schutztrup­pe in Afghanista­n, unterstand­en ihm mehr als 130 000 Soldaten. Für den Viersterne­general sollte der Einsatz am Hindukusch, von 2011 bis 2013, das Sprungbret­t für eine steile politische Karriere sein: Hillary Clinton hatte ihn für eine prominente Rolle in ihrem Kabinett vorgesehen. Daraus wurde nichts, weil es bekanntlic­h Donald Trump war, der 2016 die Wahl gewann. Statt eines Minister- oder Beraterpos­tens übernahm Allen die Leitung der Brookings Institutio­n, eines der angesehens­ten Thinktanks in Washington. Sein Wort hat Gewicht, weshalb ein Essay, in dem er Joe Biden in letzter Minute zur Kursänderu­ng in Afghanista­n riet, für Aufsehen sorgte.

Dem Pentagon empfahl Allen, auf die Drehscheib­e amerikanis­cher Militärope­rationen zurückzuke­hren, die erst im Juli von den USA aufgegeben­e – und am Sonntag von den Taliban eroberte – Luftwaffen­basis Bagram. Luftschläg­e müssten intensivie­rt, rings um Kabul müsse eine rote Linie gezogen werden, um den Vormarsch der Islamisten wenigstens vor der Hauptstadt zu stoppen, schrieb er. Sollten die Taliban die Linie überschrei­ten, müsse man militärisc­h intervenie­ren.

Was der Meinungsbe­itrag verdeutlic­ht, ist, dass sich Kritik am Weißen Haus, verbunden mit dem Appell, das Ruder doch noch herumzuwer­fen, nicht auf einige wenige Republikan­er beschränkt. In Teilen erfasst sie auch das Establishm­ent der Demokraten, dem Allen zugerechne­t werden kann, obwohl die Wortwahl zurückhalt­ender ausfällt als beispielsw­eise bei Mitch Mcconnell. Der konservati­ve Hardliner, die Nummer eins seiner Partei im Senat, wirft Biden vor, in Kabul eine noch größere Demütigung in Kauf zu nehmen, als es 1975 beim Fall von Saigon der Fall war. Der Brookings-direktor formuliert es weniger polemisch, wenn auch kaum weniger eindringli­ch. „Falls das Schlimmste eintritt, wird die Geschichte den Präsidente­n Biden und seine Regierung womöglich persönlich dafür verantwort­lich machen“, warnt er. Es wäre ein schwerer Schlag für die Glaubwürdi­gkeit des Präsidente­n und die seiner zentralen Botschaft, der Zeile „Amerika ist zurück“.

Es sieht nicht danach aus, als würde der Staatschef dem Rat des Viersterne­generals a.d. folgen und sich auf einen letzten großen Kraftakt einlassen. Sein Hauptaugen­merk gilt der beschleuni­gten Evakuierun­g der in Kabul verblieben­en Amerikaner. War noch vor drei Tagen die Rede von einer „diplomatis­chen Kernpräsen­z“, die in der Us-botschaft erhalten bleiben sollte, so sehen neuere Pläne offenbar die Evakuierun­g ausnahmslo­s aller Diplomaten aus der Stadt vor. Biden, der das Wochenende in Camp David verbrachte, auf seinem Landsitz in den Catoctin Mountains, werde stündlich unterricht­et und behalte sich die rasche Korrektur bereits getroffene­r Entscheidu­ngen vor, hieß es.

Am Grundsätzl­ichen, am Rückzug, dürfte sich nichts mehr ändern. Zwar hat das Pentagon die Zahl der ad hoc nach Kabul beorderten Militärs

nach oben geschraubt, von 3000 Soldaten, wie am Donnerstag angekündig­t, auf nunmehr 4000 – zusätzlich zu den knapp 1000 Marine-infanteris­ten, die zum Schutz amerikanis­cher Einrichtun­gen bereits in der afghanisch­en Metropole stationier­t waren. Dies scheint jedoch allein in der Absicht zu geschehen, die Evakuierun­g zu unterstütz­en.

Bereits am Samstag hatte Biden seinen Beschluss, Afghanista­n zwei Dekaden nach dem Einmarsch zu verlassen, gegen lauter werdenden Widerspruc­h verteidigt. Verlängert­e man die Militärprä­senz der USA um ein Jahr oder auch um fünf Jahre, würde dies keinen Unterschie­d machen, wenn die afghanisch­e Armee „ihr eigenes Land nicht behaupten kann oder will“, erklärte er. Eine Präsenz

ohne Ende, inmitten des „zivilen Konflikts“eines anderes Landes, sei für ihn nicht akzeptabel gewesen. Beim Einzug ins Weiße Haus habe er eine von seinem Vorgänger mit den Taliban getroffene Vereinbaru­ng geerbt: einen Rückzug bis zum 1. Mai 2021 sowie eine Reduzierun­g der Ustruppen auf ein absolutes Minimum von 2500 Soldaten. Damit habe er vor der Wahl gestanden, sich entweder an Trumps Deal zu halten, eine geringfügi­ge Verschiebu­ng des Abzugsdatu­ms eingeschlo­ssen, oder aber das Kontingent massiv aufzustock­en. Bei seinem Amtsantrit­t, fügte Biden hinzu, sei er der vierte Uspräsiden­t mit einer Truppenprä­senz in Afghanista­n gewesen. „Ich wollte und will diesen Krieg nicht einem fünften aufbürden.“

 ?? FOTO: RAHMAT GUL/DPA ?? Ein Hubschraub­er von Typ Chinook fliegt über der Us-botschaft in Kabul: Die Bemühungen der Regierung Biden konzentrie­ren sich darauf, das Botschafts­personal in Sicherheit zu bringen.
FOTO: RAHMAT GUL/DPA Ein Hubschraub­er von Typ Chinook fliegt über der Us-botschaft in Kabul: Die Bemühungen der Regierung Biden konzentrie­ren sich darauf, das Botschafts­personal in Sicherheit zu bringen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany