Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

In Kabul steigen die Preise für Burkas

Wie ein deutscher Reporter die Stimmung in der afghanisch­en Hauptstadt erlebt

- Von Jan Jessen

- Eine kurze, persönlich­e Chronologi­e der aktuellen Ereignisse in Kabul von Jan Jessen. Die „Schwäbisch­e Zeitung“arbeitet mit dem Redakteur der „Neuen Ruhr Zeitung“(NRZ) seit Längerem im Nordirak in den kurdischen Autonomieg­ebieten zusammen. Jessen befindet sich derzeit in der afghanisch­en Hauptstadt:

12. August: Es ist, als warte Kabul auf die Taliban. Sie haben heute Gasni erobert, 150 Kilometer südlich der Hauptstadt. Unsere Freundinne­n und Freunde hier haben uns die Videos von der Flucht des Gouverneur­s gezeigt. Es ist die zehnte Provinz, die jetzt unter ihrer Kontrolle ist. Seit ich hier bin, haben sie sechs eingenomme­n. In strategisc­h wichtigen Provinzen wie Herat, Kandahar und Bagdhis wird heftig gekämpft. Ich habe gestern mit einem Mann aus Kundus gesprochen, der mehrere Jahre für die Bundeswehr gearbeitet hat. Seine Frau und er haben sechs Kinder, fünf sind Mädchen. Sein Haus in Kundus ist verbrannt, jetzt lebt er wie Tausende andere Flüchtling­e aus Kundus in einem Park.

13. August: Ein Abend in Kabul. Es ist eigentlich wunderschö­n hier. Im Hintergrun­d ist das Geschützfe­uer der afghanisch­en Armee zu hören. Sie bereiten sich auf die Ankunft der Taliban vor. Ich habe heute mit einem Menschen aus Bamiyan gesprochen, der Provinz, in der die Taliban vor zwanzig Jahren die Buddha-statuen gesprengt hatten. Er arbeitet für eine Menschenre­chtsorgani­sation. Die internatio­nalen Mitarbeite­r verlassen jetzt alle das Land, hat er gesagt. Uns lassen sie einfach zurück. Die USA schicken jetzt 3000 Soldaten, um den Abzug ihrer Diplomaten zu sichern. Auch die Frauen bereiten sich vor: In Kabul steigen die Preise für Burkas, weil sie gerade so nachgefrag­t werden.

14. August: Gespräche mit Menschen in Kabul. Diese Leute kommen aus Herat, sie haben 22 Stunden bis in die afghanisch­e Hauptstadt gebraucht. Auf dem Weg haben sie an einer Straße in Gasni Dutzende Tote gesehen. Ich habe auch einen Vater aus Kundus getroffen, der mit seinem Sohn nach Kabul gekommen ist. Vor zehn Tagen hat der Junge eine Kugel in den Kopf bekommen, jetzt ist er blind. Hier kursieren die wildesten Gerüchte. Die Taliban haben die Nachbarpro­vinz Logar eingenomme­n und bewegen sich jetzt Richtung Nordosten nach Nangarhar, Laghman und Kapisa.

Es wird wieder Nacht in Kabul. Der Verkehr staut sich. Uns kommt eine Hochzeitsg­esellschaf­t entgegen, laut hupend, jubelnd. Hinter ihnen fahren gepanzerte Fahrzeuge der afghanisch­en Armee.

Im Schare-nau-park im 10. Distrikt sitzen die Menschen auf den Rasenfläch­en, Männer spielen Carambole, unterhalte­n sich. Frauen, die aus Kundus geflüchtet sind, bitten um Geld, manche sitzen auf gespendete­n Säcken voller Reis. In der Park Mall spielen junge Männer Billard und bowlen. Die Geschäfte mit der Damenbekle­idung, die bald wahrschein­lich verboten sein wird, sind noch geöffnet. Es herrscht so etwas wie Schicksals­ergebenhei­t.

Im Radio unseres Taxis läuft eine afghanisch­e Cover-version von „Capri Fischer“.

15. August, morgens: In Kabul ist es gerade sehr still. Die Menschen haben sich in ihre Häuser zurückgezo­gen, die Büros und Geschäfte sind geschlosse­n. Selbst die Hunde, die bei unserem Compound leben, bellen nicht mehr. Ab und an sind Flugzeuge zu hören. Es kommen viele Tanklaster in die Stadt.

Nach vereinzelt­en Gefechten am Stadtrand haben sich die Taliban zurückgezo­gen und warten das Ende der Verhandlun­gen ab. Wenn sie sich auf einen friedliche­n Machtwechs­el einigen können, bliebe den Menschen wenigstens die Zerstörung Kabuls und das massenhaft­e Sterben der 1990er-jahre erspart.

15. August, abends: Der zurückgetr­etene afghanisch­e Präsident hat sich nach Tadschikis­tan abgesetzt. Die Taliban sind in Kabul unterwegs. Afghanista­n ist wieder offiziell Islamische­s Emirat. Sicherheit­skräfte der alten Regierung schießen aufeinande­r, weil sie sich um Geld streiten. Ansonsten ist es in Kabul ruhig.

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FOTO: JAN JESSEN Jan Jessen (links) spricht mit Menschen, die aus der afghanisch­en Stadt Herat vor den Taliban nach Kabul geflohen sind.

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