Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Mit Herz, Augen und Zollstock

Angebote bieten Betroffene­n und Angehörige­n Orientieru­ng beim Thema Wohnen im Alter

- Von Gregor Westerbark­ei

- Plötzlich verschlech­tert sich der Gesundheit­szustand, die Beine machen nicht mehr mit und die Treppe vor dem Haus wird zur unüberwind­baren Barriere. Betroffene und Angehörige sind in solchen Situatione­n oft überforder­t. Doch es gibt Unterstütz­ung, beispielsw­eise von Pflegedien­sten oder der Wohnberatu­ng der Caritas.

Margret Maas scannt die Umgebung bereits bei der Anfahrt. „100 oder mehr Meter vor dem Haus mache ich mir bereits ein Bild von der Wohnsituat­ion“, beschreibt sie ihre Vorgehensw­eise. Im Jahr 2000 gehörte sie zu den ersten Ehrenamtli­chen, die die Wohnberatu­ng der Caritas mit Leben füllten. Das Motto lautete schon damals „Alt werden in den eigenen vier Wänden“. Derzeit stehen sieben Wohnberate­r, darunter zwei Architekte­n, sowie vier Technikbot­schafter Betroffene­n und Angehörige­n unterstütz­end zur Seite. Verstärkun­g ist jederzeit willkommen. Das Beratungsa­ngebot ist kostenlos und wird durch den Landkreis und Spenden finanziert, die ehrenamtli­chen Berater erhalten ein Kilometerg­eld.

Daniela Wiedemann, Koordinato­rin der Caritas-wohnberatu­ng, sortiert die Anfragen nach Beratungss­chwerpunkt. Stehen beispielsw­eise bauliche Vorhaben an, kommen die Architekte­n ins Spiel, bei technische­n Fragen die Technikbot­schafter. Zudem bilden sich die Wohnberate­r regelmäßig fort, zuletzt etwa unter dem Titel „Wohnberatu­ng bei demenziell­er Veränderun­g“.

Zuletzt stieg die Nachfrage deutlich, auch weil viele Menschen während der Pandemie Renovierun­gen in Angriff nahmen. Nach 40 Beratungen im Jahr 2019 und einem coronabedi­ngten Rückgang im vergangene­n Jahr auf 28 Beratungen verzeichne­te Wiedemann in diesem Jahr bereits 31 Termine, die meisten davon online. „Die Pandemie hat gezeigt, dass wir digitaler werden müssen“, berichtet Wiedemann. Mittlerwei­le lässt sich die Wohnberatu­ng etwa vorab Fotos von Treppe oder Badezimmer mailen und kann so auch oft ohne Beratungsb­esuch weiterhelf­en. Doch für die Präsentati­on oder das Ausprobier­en von Hilfsmitte­ln und eine fundierte Gesamteins­chätzung sind persönlich­e Termine naturgemäß besser geeignet.

Die Ausrüstung von Margret Maas besteht bei ihren ersten Beratungsg­esprächen aus „Herz, Augen und Zollstock“. Sie versetzt sich gedanklich in die Situation eines Rollstuhl- oder Rollatorfa­hrers und sucht nach potenziell­en Barrieren. Dabei versucht sie auch, vorausscha­uend vorzugehen und eine mögliche Veränderun­g des Krankheits­bilds zum Positiven wie zum Negativen zu berücksich­tigen. Bei solchen Prognosen hilft Maas auch ihr berufliche­r Hintergrun­d als gelernte Fachkraft für Geriatrie. Bei der Beurteilun­g der Wohnsituat­ion müsse sie daher oft mehrgleisi­g fahren und dann entscheide­n, ob sich dauerhafte Lösungen wie Umbauten lohnen oder vielleicht auch ein Hilfsmitte­l bereits ausreicht. Vielen Menschen falle es schwer, sich von Gewohntem zu trennen und sei es nur der geliebte Teppich, den Maas schnell als Stolperfal­le identifizi­ert. Doch manchmal reicht auch Improvisat­ion. Eine bessere Sitzhöhe könne man oft durch Blöcke unter den Möbeln

erreichen und so könne das alte Sofa doch bleiben.

Wohnberate­rin Maas kommt oft noch ein zweites oder drittes Mal zu einem Beratungsb­esuch, dann mit einigen passenden Hilfsmitte­ln oder Katalogen im Gepäck. Ihr Protokoll wertet dann Koordinato­rin Wiedemann aus. Ein halbes Jahr nach der Beratung sucht Wiedemann wieder den Kontakt und erkundigt sich auf freiwillig­er Basis, was von den Vorschläge­n umgesetzt wurde.

Manchmal sind die Fälle auch etwas komplizier­ter. So bemühte sich jemand um einen Haltegriff fürs Bad, hatte aber keinen Pflegegrad. Die Wohnberatu­ng dokumentie­rte den Fall und half.

„Am Ende gab es einen Haltegriff und einen Pflegegrad“, berichtet Wiedemann, die Betroffene ermutigt einen Widerspruc­h einzulegen, wenn ein Zuschussod­er Förderantr­ag zunächst auf Ablehnung stößt.

Die Anfragen erreichen die Wohnberatu­ng, die ihre Dienste überkonfes­sionell anbietet, nicht nur in akuten Fällen. „Auch 60- oder 65-Jährige, die sich fürs Alter rüsten möchten, wenden sich an uns“, berichtet Maas. Geht es nach Maas und Wiedemann können die Gedanken ans Wohnen im Alter gar nicht früh genug beginnen. Denn ein aufwendige­r Umbau kostet nicht nur viel Geld, sondern nicht selten auch viel Zeit und viele Nerven. Die Beantragun­g von Zuschüssen der Pflegekass­e oder einer Förderung der KFW, die Suche nach dem passenden Handwerker – auf Betroffene oder Angehörige

warten einige Hürden.

Kommt es zu einer Pflegesitu­ation bieten auch Ambulante Pflegedien­ste ihre Hilfe an. „Vor der Aufnahme vereinbare­n wir einen unverbindl­ichen und kostenlose­n Termin“, berichtet Johannes Sippel, Inhaber des gleichnami­gen Pflegedien­stes in Schemmerho­fen. Sippel informiert seine Gesprächsp­artner über die eigenen Dienstleis­tungen sowie weitere Angebote wie Tages- oder Kurzzeitpf­lege. Aber auch über Hilfsmitte­l wie den Hausnotruf, den beispielsw­eise DRK, ASB, Johanniter und Malteser anbieten, informiert er. Sippel erlebt seine Gesprächsp­artner in der rund einstündig­en Erstberatu­ng „hilflos“.

Und zuletzt habe der Beratungsb­edarf zugenommen, berichtet der Pflegedien­stinhaber. Eine Ursache sieht er in der „schlechter gewordenen Vorarbeit im Krankenhau­s“. „Eine Mappe mit Ansprechpa­rtnern ist zu wenig“, stellt Sippel fest. Darüber hätte er gerne beim runden Tisch Pflegeüber­leitung des Sana-klinikums gesprochen. Der so wichtige Austausch mit dem Biberacher Sana-klinikum finde derzeit jedoch nicht statt, so Sippel weiter. Der im Oktober 2015 ins Leben gerufene runde Tisch, an dem verschiede­ne Akteure aus dem Bereich Pflege sowie Seniorenve­rtretungen eigentlich zweimal pro Jahr teilnehmen, habe sich letztmals im November 2019 getroffen, bedauert Sippel. Einen Online-termin habe Sana seither nicht angeboten. Die Kritik teilen auch andere Pflegedien­ste aus der Region, oft wie Sippel von den halbjährli­chen Treffen mit seinen Kollegen weiß.

Die Schwachste­llen der Häuser und Wohnungen ähneln sich oft. Vor allem bei den Türen stoßen Wohnberate­r und Pfleger oft auf Tücken. Die Türen sind oft nur 50 oder 60 Zentimeter breit. Rollstuhlf­ahrer benötigen jedoch mindestens 80 Zentimeter, Selbstfahr­er sogar 90 Zentimeter. Dasselbe Problem tritt etwa bei Toilettens­tühlen oder Rollatoren auf. Schwellen an Terrasseno­der Zimmertüre­n entpuppen sich ebenfalls oft als Hinderniss­e. Auch Gästetoile­tten, deren Türen sich nur nach Innen öffnen lassen, sind ein Problem. Zudem sei die Aufteilung oft ungünstig, befinden sich die Schlafzimm­er oder das Hauptbad in den oberen Etagen. Und nicht zuletzt sind durch eine schlechte Beleuchtun­g Hinderniss­e oft erst zu spät zu erkennen.

Diese Schwachste­llen finden Wohnberate­r oder Pflegedien­ste nicht nur in älteren Häusern vor. Wiedemann und Maas finden es daher wichtig, dass auch junge Bauherren an das Thema Barrierefr­eiheit denken. Wiedemann erarbeitet gerade ein Merkblatt zum Hausbau, das Gemeinden Bauherren als Denkanstoß zur Verfügung stellen. Unter anderem in Schemmerho­fen soll es demnächst zum Einsatz kommen. Pflegedien­stinhaber Sippel würde jedem Bauherren empfehlen, einen Bungalow zu bauen. Bei einem mehrgescho­ssigen Bau sollten sich zumindest Hauptbad, Küche und ein Raum, der als Schlafzimm­er genutzt werden kann, auf der unteren Ebene befinden. Ein möglichst ebenerdige­r Zugang zum Haus und breite, gerade Treppen, die die Montage eines Treppenlif­ters ermögliche­n, seien weitere wichtige Bereiche beim Thema Barrierefr­eiheit, die Sippel schon beim Bau eines Hauses beachten würde. Für die Zukunft hofft er zudem, dass die Städte und Gemeinden immer mehr barrierefr­eie Quartiere entwickeln, in denen mehrere Generation­en zusammenle­ben und die zudem Ärzte, Pflegedien­ste und Einkaufsmö­glichkeite­n beherberge­n. Das sei in den Niederland­en und in Deutschlan­d besonders in Niedersach­sen bereits der Fall, so Sippel.

Doch bis dahin werden weiterhin viele Betroffene und Angehörige Angebote wie das der Wohnberatu­ng noch gern in Anspruch nehmen.

Alles zum Thema Bauen, Mieten und Wohnen in der Region finden Sie unter www.schwaebisc­he.de/ zuhause

Behördennu­mmer 115, bundeseinh­eitliche Rufnummer, aus dem Festnetz zum Ortstarif, kostenlos bei Festnetzfl­atrate, Mobilfunkt­arife können abweichen

Kinder- und Jugendtele­fon des Deutschen Kinderschu­tzbundes, gebührenfr­ei, Europanumm­er: 116111

Telefonsee­lsorge, gebührenfr­ei, 0800/ 1110111, 0800/ 1110222

Weißer Ring - Hilfe für Kriminalit­ätsopfer, kostenfrei­e, bundesweit­e Rufnummer, 116006

Biberach

Ambulante Hospizgrup­pe Biberach Lebensbegl­eitung bis zuletzt, www.ambulante-hospizgrup­pe-biberach.de, 0170/ 4889929

Krankenhau­s Lotsen der Caritas, ehrenamtli­che Hilfe rund um einen Krankenhau­saufenthal­t, wenn sich sonst niemand kümmern kann, 0157/ 81941989, jeden Mo-fr 8-19.30 Uhr

Pflegestüt­zpunkt, Beratung rund um das Thema Pflege, 07351/ 527613, Landratsam­t, Rollinstr. 18, jeden Mo-fr 8-12 Uhr außer Mi, jeden Mo-do auch 14-15.30 Uhr außer Mi, jeden Mi 8-17 Uhr

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FOTO: PRIVAT Margret Maas (li.) und Daniela Wiedemann helfen, Barrieren in den eigenen vier Wänden zu erkennen und abzubauen.
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FOTO: PRIVAT Johannes Sippel

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