Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Cem Özdemir badet in Rot in der Menge
Der bekannte Grünenpolitiker unterstützt Direktkandidatin Anja Reinalter im Wahlkampf
- Ein Grüner in Rot an der Rot. Ob das ein versteckter Hinweis auf künftige Koalitionen ist? Darüber rätselten einige Fans von Cem Özdemir am Donnerstag in den sozialen Medien. Der Stuttgarter Bundestagsabgeordnete und sein sogenannter „Cemtrail“machten derweil Station an der Perle Oberschwabens.
Von künftigen Berliner Farbkombinationen war dort nicht die Rede, nur so viel: „Einen Ort Schwarz an der Schwarz habe ich nicht gefunden.“Der Bad Uracher mit türkischen Wurzeln wollte lieber die Biberacher Direktkandidatin der Grünen, Anja Reinalter, im Wahlkampf unterstützen. Statt einer Rede beließ es der frühere Parteivorsitzende dabei, zuzuhören, Fragen zu stellen und bei etwas Akrobatik.
Erste Station war die Firma Jako in Emishalden. Den drei Brüdern Bernd, Martin und Karl-heinz Jäger ist es wichtig, dass die Politik den Mittelstand sieht und sich nicht nur bei den großen Unternehmen zeigt. Mit der Firmengeschichte vermochte Bernd Jäger den Gast trotz Termindruck zu fesseln. Ende des 19. Jahrhunderts als Ein-mann-zimmereibetrieb samt kleiner Landwirtschaft gegründet, begann der Vater der drei heutigen Eigentümer, die Restaurierung historischer Gebäude anzubieten. Wegen seiner schweren Erkrankung mussten die Brüder Bernd und Martin 1999 als sehr junge Männer die Firma von einem Tag auf den anderen übernehmen. Geprägt in ihrem Tun hat sie die Begeisterung des sonst so sachlichen Vaters für alte Gebäude und seine Bewunderung für das Können vergangener Generationen. Aber auch sein häufiges Klagen über Probleme und unangenehme Kunden.
Die Brüder verlegten sich mit Jako komplett auf die Denkmalpflege, dazu gehört auch die Dislozierung, also das Versetzen historischer Gebäude an einen neuen Standort. Heute hat das Unternehmen, das sie mit vier Zimmerleuten übernommen hatten, 170 Mitarbeiter. Es setzt 20 Millionen Euro jährlich um. Die Auftragsbücher sind für die nächste Dekade gefüllt. Ein Neubau mit gläserner Produktion, Arbeitsplätzen, Gastronomie und einem Laden für Produkte aus der Region entsteht zurzeit für acht Millionen Euro am Stammsitz.
Dass Jako bisher keinen Fachkräftemangel kenne, mag mit der Firmenphilosophie zusammenhängen, die sich die Brüder in Abgrenzung zum Vater gegeben haben. Darin geht es um Respekt für sich, für andere, für das eigene Tun, aber auch das Einstehen für eigene Fehler. Stolz sind die Brüder darauf, dass in der Firma Mitarbeiter unterschiedlichster Herkunft und Religion problemlos zusammenarbeiten. So hat bei ihnen ein geflüchteter Syrer eine kaufmännische Ausbildung beendet und arbeitet nun in der Buchhaltung, so konnten sie drei junge Frauen bewegen, sich zu Zimmerleuten ausbilden zu lassen. „Wir wollen die Gesellschaft
verändern und gestalten“, hatte Bernd Jäger eingangs gesagt. Das und der Gedanke von Nachhaltigkeit und Ökologie hätten Jako und der prominente Politiker gemeinsam. Den Ball nahm Cem Özdemir gern auf. „Mir ist nicht wichtig, woher jemand kommt, darauf hat ja niemand Einfluss; wichtig ist, wohin er oder sie will.“Dass mittelständische Firmen wie Jako „nicht an den Shareholder-value, sondern in Generationen denken“, gefalle ihm und passe zu den Grünen, „weil man der Region etwas hinterlässt, von der man auch profitiert.“
Anja Reinalter dankte ihrem Parteikollegen, dass er sich Zeit für den ländlichen Raum, mittelständische Unternehmen und das Handwerk genommen hat. Apropos Handwerk: In der Werkhalle, in der Jako historische Gebäude restauriert, durfte der Politiker selbst Hand an Hammer und Stemmeisen legen, um einen Fachwerkbalken zu bearbeiten.
Fachlich klar in seinem Element war Cem Özdemir wenig später im Hof des früheren Prämonstratenserklosters in Rot an der Rot, der nächsten Station des Abends. Dort hat der BDJK ein Zeltlager für Kinder aus dem ganzen Land aufgeschlagen. Der Gang über den Platz geriet für Özdemir und Reinalter zu einem Bad in der Menge. Denn etliche Kinder und Jugendliche wünschten sich ein Autogramm, gern auch direkt auf ihr T-shirt. Vor der Klosterkirche mussten sich die zwei Politiker dann auf den sprichwörtlich heißen Stuhl begeben, der passenderweise grün gestrichen war.
Ob er aus Interesse nach Rot an der Rot komme oder weil er dafür Geld bekommt, wollten die Mädchen und Jungen wissen. „Weil ich Anja unterstützen möchte, darum bin ich hier“, entgegnete er. Geld bekomme er dafür nicht, aber für seine Arbeit als Abgeordneter schon. „Viel?“, hakte jemand nach. „Das ist schon in Ordnung“, findet Özdemir. Wie es sich anfühle, Verantwortung zu tragen, wollte jemand wissen. „Das ist manchmal schwer, wenn es um so schwierige Entscheidungen wie Maskenpflicht oder Impfen geht – egal wie, irgendwer ist immer sauer“, räumte der Politiker ein. Im Zeltlager nutzen die Kinder und Jugendlichen ein eigenes Zirkuszelt für Workshops und Auftritte. „Welche Rolle würden Sie gern in einem Zirkus spielen?“Da konnte Özdemir, der als gelernter Erzieher und Sozialpädagoge früher selbst Jugendfreizeiten betreut hat, aus dem Vollen schöpfen. Für einen Akrobaten habe er nicht genug Talent, findet er zwar, doch mit einigen Fingerspielen und Koordinationstricks war er den Kindern deutlich voraus. „Ich wäre gern ein Clown“, bekannte er. Er erzählte, dass er die Hasensprache beherrsche. Dazu müsse man seine Mundnase-partie gut im Griff haben, denn wenn ein Detail der Mimik nicht stimmt, werde aus „Ich habe Durst“ganz schnell „Du bist doof“. Sagte es und plusterte seine Nasenflügel auf. Bevor er die Kinder in die Abschlussdisco entließ, wollte Cem Özdemir noch wissen, wie sie die Lockdowns erlebt haben. Manches sei gechillter gewesen, sagte ein Mädchen, weil sie länger schlafen oder im Schlafanzug in den Onlineunterricht gehen konnte. Systemabstürze hätten es aber schwierig gemacht. Auch Cem Özdemir fand die Zeit nicht einfach. Er konnte seinen beiden Kindern in manchen Fächern zwar helfen, aber nicht in Mathe, „da bin ich selbst eine Niete“. „Freut ihr auch auf die Schule?“, wollte er zum Abschluss wissen. Eine lautes und klares „Ja!“war die Antwort an diesem Donnerstagabend im ersten Feriendrittel in Rot an der Rot.
Irene Brauchle, Bürgermeisterin von Rot an der Rot, war es beim Abschied wichtig, sich bei dem Bundestagsabgeordneten zu bedanken, dass der Bund der kleinen Gemeinde Rot an der Rot die Sanierung des historischen Oberen Tors ermöglicht. Er schießt über 60 Prozent der Kosten zu. Das Gebäude soll bis zum 900. Jahrestag der urkundlichen Ersterwähnung der Gemeinde 2026 – unter Mitwirkung der Firma Jako - fertig sein. Die Bürgermeisterin möchte darin ein Museum einrichten, das die Geschichte des barocken Ortes im Herzen Oberschwabens erzählt.