Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Ein Stürmer wie keiner

Der Fußball trauert um Gerd Müller, den so bescheiden­en Torjäger

- Von Patrick Strasser

Ein ganzer Verein ist in Moll, ein Land in Trauer um den „Bomber der Nation“, um einen der größten Fußballer dieser Erde – nicht zu vergessen der Schmerz der Angehörige­n, der Familie um seine Frau Uschi und seine Tochter Nicole. Gerd Müller ist tot.

Am Sonntag verstarb Müller im Alter von 75 Jahren in einem Pflegeheim südlich von München. Man kann nur hoffen, dass es so gekommen ist, wie seine Ehefrau es vor wenigen Wochen angesichts der unablässig fortschrei­tenden Demenz infolge der Alzheimer-erkrankung formuliert hatte: „Er schläft langsam hinüber.“Uschi Müller, die ihren Mann seit Dezember 2014 jeden Tag in der Einrichtun­g besuchte und pflegte, bis sie wegen strenger Auflagen in der ersten Welle der Coronapand­emie drei Monate Besuchsver­bot hatte, hoffte inständig, „dass er nicht nachdenken kann über sein Schicksal, über eine Krankheit, die dem Menschen die letzte Würde raubt“. Zuletzt war sie froh, wenn er wenigstens ihre Stimme, die Stimme, der ihm seit der Hochzeit 1967 nahestehen­dsten Person, erkannte. Den Kampf gegen das Vergessen hatte Müller bereits verloren, nun ist er sanft entschlumm­ert.

Die Erinnerung an das Ich, an sein Leben, an den Fußball, an die fantastisc­he Karriere, an all die Erfolge, an die Rekorde und Rekordtore – all das verflog unaufhalts­am. Wie der Sand in einer Sanduhr. Die schrecklic­he Erkrankung nahm ihm einen fröhlichen Lebensaben­d. Müller wurde seit Längerem palliativ behandelt. Sein Tod war eine Frage der Zeit.

„Die Welt des FC Bayern steht still“, schrieb der Rekordmeis­ter am

Sonntag auf der Homepage, die seit der Todesnachr­icht komplett in schwarz-weiß gehalten ist. „Es ist ein trauriger, schwarzer Tag für den FC Bayern. Gerd Müller war der größte Stürmer, den es je gegeben hat – und ein feiner Mensch, eine Persönlich­keit des Weltfußbal­ls“, sagte Präsident Herbert Hainer tief betroffen. Vorstandsb­oss Oliver Kahn sagte über „kleines dickes Müller“, wie ihn der frühere Bayern-coach Tschik Cajkovski zu Beginn von Müllers Karriere Mitte der 1960er-jahre liebevoll nannte: „Gerd wird für immer in unseren Herzen sein.“Wegen seiner Bescheiden­heit, seiner Liebenswür­digkeit, und nicht nur wegen all der Torjägerka­nonen und Titel – ob Weltmeiste­r oder Europapoka­lsieger.

Ich bin froh, Gerd Müller noch gesprochen zu haben, ihn an der Säbener Straße oder bei anderen Anlässen interviewt haben zu können, bevor bei ihm die schrecklic­he Alzheimer-erkrankung diagnostiz­iert wurde. Als junger Reporter war ich hin und wieder sauer auf „den Gerd“, wie ihn alle nannten. Sauer, weil er damals als Assistenzt­rainer der 2. Mannschaft der Bayern nur dann über seine Mittelstür­mer-erben wie Roy Makaay, Miroslav Klose oder Luca Toni sprechen wollte, wenn man sich ihm wirklich in den Weg stellte. Müller mochte keine große Bühne, mochte nicht viel reden, schon gar nicht über andere richten. Was sollte der größte Torjäger aller Zeiten auch über Angreifer sprechen, die ihm nicht das Wasser reichen konnten? Früher habe ich das nicht verstanden.

Und doch brachte jede Begegnung mit dem schüchtern­en Weltstar das erdende Gefühl, dass es eben völlig okay ist, wenn man in der Bizeps-branche mit so vielen Möchtegern-stars

und Dampfplaud­erern lieber schweigen möchte. Ein Wechsel des Blickwinke­ls macht aus einer vermeintli­chen Schwäche eine Stärke. Ich war zu schwach, dies zu erkennen.

2015 habe ich mit dem wunderbare­n Kollegen und Fußballhis­toriker Udo Muras die erste Biografie über den „Bomber der Nation“verfasst – im Zuge der Recherche konnte ich leider nicht mehr mit dem bereits schwer von der Krankheit gezeichnet­en Müller sprechen. Es war jedoch schön, zu erkennen, wie viele Türen sich öffneten, wenn man Weggefährt­en wie Beckenbaue­r oder Hoeneß zu ihrem Gerd befragen wollte. Ein Statement zum Tagesgesch­äft? Nein, heute nicht. Ein Interview über Gerd Müller? Ja klar, gerne. Wann?

Franz Beckenbaue­r, selbst mittlerwei­le 75 Jahre alt, brachte es einst auf den Punkt: „Alles, was der FC Bayern geworden ist, verdankt er Gerd Müller. Ohne die Tore von Gerd würden wir heute immer noch in der Bretterbud­e an der Säbener Straße sitzen.“Und Paul Breitner sagte mir einmal: „Gerd Müller ist der wichtigste und größte Fußballer, den Deutschlan­d nach 1954 gehabt hat. Der FC Bayern und die Nationalel­f sind das, was sie geworden sind, durch Gerd Müller. Ich auch.“Tiefer kann man sich nicht verbeugen. Vor ihm, dem gefürchtet­en Bomber, dem allseits verehrten Müller, dem geliebten Gerd.

Gibt es im Himmel einen Bolzplatz, wird Müller nun dort sein Unwesen treiben. Kurze Drehung und rein das Ding. Wenn es dieser Tage blitzt und donnert, ist es kein Sommergewi­tter. Dann macht es bumm – da oben. Hier unten bleiben Gerd Müller und seine Tore unvergessl­ich.

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 ?? FOTO: WEREK/IMAGO IMAGES ?? Erstmals (in der Saison 1968/69) deutscher Meister: Gerd Müller (li.) mit Schale, rechts Franz Beckenbaue­r.
FOTO: WEREK/IMAGO IMAGES Erstmals (in der Saison 1968/69) deutscher Meister: Gerd Müller (li.) mit Schale, rechts Franz Beckenbaue­r.
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FOTO: WEREK/IMAGO IMAGES Den Kamm führt die Ehefrau: Gerd und Uschi Müller im Sommer 1969 im Urlaub in Riccione.
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