Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Ein Stürmer wie keiner
Der Fußball trauert um Gerd Müller, den so bescheidenen Torjäger
Ein ganzer Verein ist in Moll, ein Land in Trauer um den „Bomber der Nation“, um einen der größten Fußballer dieser Erde – nicht zu vergessen der Schmerz der Angehörigen, der Familie um seine Frau Uschi und seine Tochter Nicole. Gerd Müller ist tot.
Am Sonntag verstarb Müller im Alter von 75 Jahren in einem Pflegeheim südlich von München. Man kann nur hoffen, dass es so gekommen ist, wie seine Ehefrau es vor wenigen Wochen angesichts der unablässig fortschreitenden Demenz infolge der Alzheimer-erkrankung formuliert hatte: „Er schläft langsam hinüber.“Uschi Müller, die ihren Mann seit Dezember 2014 jeden Tag in der Einrichtung besuchte und pflegte, bis sie wegen strenger Auflagen in der ersten Welle der Coronapandemie drei Monate Besuchsverbot hatte, hoffte inständig, „dass er nicht nachdenken kann über sein Schicksal, über eine Krankheit, die dem Menschen die letzte Würde raubt“. Zuletzt war sie froh, wenn er wenigstens ihre Stimme, die Stimme, der ihm seit der Hochzeit 1967 nahestehendsten Person, erkannte. Den Kampf gegen das Vergessen hatte Müller bereits verloren, nun ist er sanft entschlummert.
Die Erinnerung an das Ich, an sein Leben, an den Fußball, an die fantastische Karriere, an all die Erfolge, an die Rekorde und Rekordtore – all das verflog unaufhaltsam. Wie der Sand in einer Sanduhr. Die schreckliche Erkrankung nahm ihm einen fröhlichen Lebensabend. Müller wurde seit Längerem palliativ behandelt. Sein Tod war eine Frage der Zeit.
„Die Welt des FC Bayern steht still“, schrieb der Rekordmeister am
Sonntag auf der Homepage, die seit der Todesnachricht komplett in schwarz-weiß gehalten ist. „Es ist ein trauriger, schwarzer Tag für den FC Bayern. Gerd Müller war der größte Stürmer, den es je gegeben hat – und ein feiner Mensch, eine Persönlichkeit des Weltfußballs“, sagte Präsident Herbert Hainer tief betroffen. Vorstandsboss Oliver Kahn sagte über „kleines dickes Müller“, wie ihn der frühere Bayern-coach Tschik Cajkovski zu Beginn von Müllers Karriere Mitte der 1960er-jahre liebevoll nannte: „Gerd wird für immer in unseren Herzen sein.“Wegen seiner Bescheidenheit, seiner Liebenswürdigkeit, und nicht nur wegen all der Torjägerkanonen und Titel – ob Weltmeister oder Europapokalsieger.
Ich bin froh, Gerd Müller noch gesprochen zu haben, ihn an der Säbener Straße oder bei anderen Anlässen interviewt haben zu können, bevor bei ihm die schreckliche Alzheimer-erkrankung diagnostiziert wurde. Als junger Reporter war ich hin und wieder sauer auf „den Gerd“, wie ihn alle nannten. Sauer, weil er damals als Assistenztrainer der 2. Mannschaft der Bayern nur dann über seine Mittelstürmer-erben wie Roy Makaay, Miroslav Klose oder Luca Toni sprechen wollte, wenn man sich ihm wirklich in den Weg stellte. Müller mochte keine große Bühne, mochte nicht viel reden, schon gar nicht über andere richten. Was sollte der größte Torjäger aller Zeiten auch über Angreifer sprechen, die ihm nicht das Wasser reichen konnten? Früher habe ich das nicht verstanden.
Und doch brachte jede Begegnung mit dem schüchternen Weltstar das erdende Gefühl, dass es eben völlig okay ist, wenn man in der Bizeps-branche mit so vielen Möchtegern-stars
und Dampfplauderern lieber schweigen möchte. Ein Wechsel des Blickwinkels macht aus einer vermeintlichen Schwäche eine Stärke. Ich war zu schwach, dies zu erkennen.
2015 habe ich mit dem wunderbaren Kollegen und Fußballhistoriker Udo Muras die erste Biografie über den „Bomber der Nation“verfasst – im Zuge der Recherche konnte ich leider nicht mehr mit dem bereits schwer von der Krankheit gezeichneten Müller sprechen. Es war jedoch schön, zu erkennen, wie viele Türen sich öffneten, wenn man Weggefährten wie Beckenbauer oder Hoeneß zu ihrem Gerd befragen wollte. Ein Statement zum Tagesgeschäft? Nein, heute nicht. Ein Interview über Gerd Müller? Ja klar, gerne. Wann?
Franz Beckenbauer, selbst mittlerweile 75 Jahre alt, brachte es einst auf den Punkt: „Alles, was der FC Bayern geworden ist, verdankt er Gerd Müller. Ohne die Tore von Gerd würden wir heute immer noch in der Bretterbude an der Säbener Straße sitzen.“Und Paul Breitner sagte mir einmal: „Gerd Müller ist der wichtigste und größte Fußballer, den Deutschland nach 1954 gehabt hat. Der FC Bayern und die Nationalelf sind das, was sie geworden sind, durch Gerd Müller. Ich auch.“Tiefer kann man sich nicht verbeugen. Vor ihm, dem gefürchteten Bomber, dem allseits verehrten Müller, dem geliebten Gerd.
Gibt es im Himmel einen Bolzplatz, wird Müller nun dort sein Unwesen treiben. Kurze Drehung und rein das Ding. Wenn es dieser Tage blitzt und donnert, ist es kein Sommergewitter. Dann macht es bumm – da oben. Hier unten bleiben Gerd Müller und seine Tore unvergesslich.