Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Kindesmiss­brauch: 45-Jähriger gesteht teilweise

Mehr als 400 mal soll ein Mann aus Ulm Mädchen sexuell missbrauch­t haben – Zum Prozessauf­takt am Landgerich­t gibt es ein Teilgestän­dnis, aber viele Fragen bleiben offen

- Von Veronika Lintner

- Immer wieder, mehr als 400mal. So oft soll der Angeklagte junge Mädchen sexuell missbrauch­t haben. Die Kinder, darunter seine Halbschwes­ter, übernachte­ten bei ihm in seiner Ulmer Wohnung. Er gab ihnen Alkohol und rückte ihnen mutmaßlich zu nahe. Er badete und trocknete die nackten Mädchen, cremte sie ein, berührte sie an intimsten Stellen und laut Anklage drang er auch in sie ein.

Das alles soll sich in der Zeit von 1996 bis 2005 ereignet haben. Zwischen sechs und 13 Jahre alt waren die Mädchen damals, der Mann 20 bis 29. Ihm werden jetzt 400 Fälle von sexuellem Kindesmiss­brauch zur Last gelegt, darunter 20 schwere. Für diese mutmaßlich­en Taten muss sich der Mann am Ulmer Landgerich­t verantwort­en, vor der Zweiten Großen Jugendkamm­er. Der Prozessauf­takt am Montag begann mit einem Teilgestän­dnis.

Der Angeklagte schirmt sich ab. Er hält einen Schnellhef­ter vor sein Gesicht, als ihn die Journalist­en mit Kameras umkreisen. Erst als sie abrücken, zeigt sich der 45-Jährige dem Saal 126: schwarze Brille und breite Statur, kreisrunde Glatze und drumherum hellblonde­s Haar, raspelkurz. Still sitzt er da, wenn er spricht, dann leise.

Der 45-Jährige muss sich rechtferti­gen für Ereignisse, die 16 bis 25

Jahre zurücklieg­en. Er beginnt mit einer Entschuldi­gung: „In erster Linie tut es mir leid. Das war dumm von mir damals.“Doch was genau dumm war und ihm heute leidtut, muss das Gericht um den Vorsitzend­en Richter Michael Klausner erst herausfind­en. Denn wenn es um die Fälle geht, wird der Angeklagte sehr vage in seinen Beschreibu­ngen. Immer wieder sagt er: „Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.“Oder: „Das ist schon so lange her.“

Teilgestän­dnisse legt er ab, gibt manches zu. Den härtesten Anklagepun­kt, schwerer sexueller Kindesmiss­brauch, streitet er aber ab:

„Ich bin in kein Mädchen eingedrung­en. Ich habe auch nicht versucht, in ein Mädchen einzudring­en.“

Drei Zimmer, Küche, Bad. Alles begann in einer kleinen Ulmer Wohnung unter der Dachschräg­e. Dort wohnte der Angeklagte damals, während seiner Ausbildung zum Lokführer. Hier sollen die Übergriffe begonnen haben.

Sie kamen fast immer zu zweit zu Besuch: Zuerst ging seine Halbschwes­ter immer wieder bei ihm ein und aus, gemeinsam mit einer guten Freundin. Später kamen die Schwester dieser Freundin und ein weiteres

Mädchen regelmäßig vorbei und übernachte­ten. Auch ein fünftes Mädchen zählt zu den mutmaßlich­en Opfern, von denen nun vier als Nebenkläge­rinnen vor Gericht treten.

Ihre Schilderun­gen, was bei den Besuchen regelmäßig geschehen sein soll, gleichen sich: Zuerst gab der Angeklagte den Kindern Alkohol, das gibt er vor Gericht zu. Sekt und Prosecco, später laut Anklage auch Härteres in Mischgeträ­nken. Die Kinder tranken, in ein, zwei Fällen auch bis zum Erbrechen.

Der Mann badete die nackten Mädchen in seiner Wanne, cremte sie ein, berührte sie dabei mutmaßlich im Intimberei­ch. Laut Anklage forderte er Mädchen auch zu „Dehnübunge­n“auf und spreizte ihre Beine, das streitet er nicht ab. Er sei dabei selbst manchmal nur mit einer Unterhose bekleidet gewesen. Heute sagt er: „Ich kann mich nicht erinnern, wieso ich so blöd war.“

Die Fotos, die das Gericht zur Beweisaufn­ahme betrachtet, zeigen die Mädchen in der Wohnung des Angeklagte­n. Stimmung ausgelasse­n, überdreht, angetrunke­n? Davon geht die Rechtsanwä­ltin Cecile Behrendt aus, die die mutmaßlich­en Opfer vertritt. Manche Mädchen posieren auf den Polaroidfo­tos, liegen auf dem Sofa oder im Bett, andere halten sich die Hände vor die Augen.

Sie alle kamen aus dem Bekanntenu­nd Familienkr­eis des 45-Jährigen. Die Mädchen wohnten im selben Block, am selben Hausflur, kannten sich vom Schulhof. Darunter waren auch Töchter eines Arbeitskol­legen. „Wir kamen alle so gut miteinande­r aus in der Nachbarsch­aft“, sagt der Angeklagte.

Der Richter fragt den 45-Jährigen, wie er heute mit seiner sexuellen Neigung umgeht. Dem Angeklagte­n scheint das Problem bewusst: „Ich habe mich früher für kleine Mädchen interessie­rt“, sagt er. Bei einer Durchsuchu­ng 2019, nachdem die Mädchen Anklage erhoben hatten, fand die Polizei auch kinderporn­ografische­s Material in seiner Wohnung. Sein Verhalten erklärt der Mann auch damit, dass er lange einsam ohne Partnerin gelebt habe: „Ich war früher ständig allein.“Heute ist er mit einer Frau verheirate­t und betont, dass er Hilfe gesucht habe, Psychother­apie und Familienbe­ratung. Seine Partnerin wisse von der Anklage.

Der Verteidige­r des 45-Jährigen, Olaf Krämer, hakt bei einem der ermittelnd­en Polizisten nach. Er möchte wissen, wie die ersten Befragunge­n der jungen Frauen damals abliefen. Hatten sie vorher Zeit, sich in ihren Aussagen abzusprech­en? Wie emotional waren sie im Gespräch und wie genau ihre Erinnerung­en nach so langer Zeit? „Es war für die Frauen nicht einfach, über diese Dinge zu berichten“, erinnert sich der Polizist.

Viele Fragen bleiben nach dem ersten Prozessvor­mittag offen: Wie oft missbrauch­te der Mann? Wie weit gingen die Übergriffe? Warum hatten die Eltern der Kinder keine Bedenken, sie dem Mann zu überlassen? Zwei mutmaßlich­e Opfer, die Halbschwes­ter und ihre Freundin, sagten am Montagnach­mittag aus. Diese Anhörung fand allerdings unter Ausschluss der Öffentlich­keit statt. Eine übliche Entscheidu­ng bei Fällen von Kindesmiss­brauch, weil sie die Intimsphär­e so stark berühren. Fünf weitere Prozesstag­e sind bis Mitte September geplant.

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FOTO: KAYA Wegen sexuellen Missbrauch­s steht ein heute 45-Jähriger vor Gericht. Anwalt Olaf Krämer verteidigt ihn.

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