Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Deutschland wird zum Mehrweg-land
Einweggeschirr aus Plastik soll aus Handel und Gastronomie verschwinden – Was Verbraucher, Gastgewerbe und der Gründer eines Pfandsystems über den Wandel sagen
- Man kann sagen, dass im „Orient Express“Welten aufeinandertreffen. Dass sich hier, in der Nähe des Aichacher Bahnhofs, Vergangenheit und Zukunft begegnen. In dem türkischen Imbiss mit seinem weitläufigen Biergarten geht es genauso um den Gedanken der Nachhaltigkeit wie um Wegwerfmentalität. Große Worte? Nun, man kann es auch so sagen: Der Orient Express ist einer von ungezählten gastronomischen Betrieben in Deutschland, die einmal ihren Teil dazu beitragen werden, das Plastikmüll-problem in den Griff zu bekommen. Einweggeschirr aus Kunststoff soll der Vergangenheit angehören, dem Mehrweggeschirr die Zukunft gehören.
An diesem sonnigen Tag haben es sich ein paar Gäste auf den Holzbänken des Biergartens gemütlich gemacht, der Innenraum ist aufgrund der Corona-hygieneauflagen verwaist. Sie haben Gläser vor sich, Edelstahlbesteck und Keramikteller. Ab und an holt sich ein Büroangestellter oder eine Familie nach dem Freibadbesuch einen Döner zum Mitnehmen, eingewickelt in Alufolie. Salate und Soßen gibt es in Hartplastikschalen. Während das Geschirr, das die Biergartengäste benutzen, gespült und damit umweltfreundlich wiederverwendet werden kann, landen die Plastikverpackungen nach dem Essen im Müll. Das eine ist nachhaltig, aber macht Gastronomen Arbeit – das andere ist zwar nicht nachhaltig, dafür überaus praktisch.
Und führt zu gewaltigen Müllbergen, gegen die die Europäische Union mit einer neuen Richtlinie ankämpft: Seit Juli dürfen unter anderem Einwegbesteck und -geschirr sowie Trinkhalme und Rührstäbchen aus Kunststoff Eu-weit nicht mehr produziert werden. Gleiches gilt für To-go-getränkebecher, Fast-food-verpackungen und Essensbehälter aus Styropor. Der Handel darf vorhandene Ware abverkaufen.
Gastronomen wie Erol Duman, dem der Orient Express gehört und der einen Kiosk im Aichacher Freibad gepachtet hat, setzt das unter einen gewissen Handlungsdruck.
Der kommt auch aus Deutschland. Im Mai stimmte der Bundestag der Novelle zur Änderung des Verpackungsgesetzes von Bundesumweltministerin Svenja Schulze zu. Heißt: Von 2023 an sind Restaurants, Cafés und Bistros verpflichtet, ihrer Kundschaft das Getränk to go oder das Take-awaygericht beim Straßenverkauf in einem wiederverwendbaren Mehrwegbehältnis als Alternative zur Einwegverpackung anzubieten. Einweg bleibt teilweise erlaubt – Aluminiumschalen zum Beispiel oder Holzgabeln. Eine Ausnahme gilt dabei für kleine Imbisse oder Foodtrucks. Schulzes Ziel: Mehrweg soll Standard werden. Erol Duman blickt dem einigermaßen gelassen entgegen. Schon jetzt hat er Kundinnen und Kunden, die Mehrwegbehälter mitbringen. Kunststofftragetaschen gebe er nur mehr auf Nachfrage mit, sagt der 55-Jährige. Und was ist mit seinem Plastikgeschirr? „Ich habe noch einen Vorrat an Einwegplastik“, erklärt er. „Wenn dieser aufgebraucht ist, informiere ich mich über umweltfreundliche Alternativen.“
Plastikschalen türmen sich in Edelstahlschränken hinter der Theke in nicht zu großen Bergen, und doch werden sie wohl mindestens bis Ende des Jahres reichen, schätzt Duman. Das Einweg-mehrwegmüll-thema ist immer wieder einmal auch Gesprächsthema im Orient Express. Wie an diesem Tag, an dem er sich mit zwei Stammgästen darüber unterhält. Sie begrüßen die Eu-maßnahmen. „Mit einem Strohhalmverbot werden wir die Welt aber nicht retten“, sagt einer von ihnen. Und darin sind sich die drei schnell einig.
Während die Plastikvorräte im türkischen Imbiss in Aichach, im schwäbischen Kreis Aichach-friedberg, zur Neige gehen, zählt ein Countdown auf der Internetseite der „recup Gmbh“die Zeit bis zum Inkrafttreten der Mehrwegpflicht herunter. „Willkommen bei der Revolution“, liest man. Recupvertragspartner aus der Gastronomie zahlen dem Anbieter für Mehrweg-pfandsysteme eine monatliche Gebühr, Kosten für den Versand der Mehrwegbecher und -schalen sowie das jeweilige Pfand für diese. Ein Euro für den Becher, fünf für die Schale. Diese Beträge geben sie an ihre Kundschaft weiter.
Das 2017 gegründete Münchner Start-up ist eines von vielen, die den immer größer werdenden
Mehrweg-markt erobern wollen. Geschäftsführer Florian Pachaly, der in der Nähe der Landeshauptstadt aufwuchs, sagt: „Wir wollen in fünf Jahren die 280 000 Tonnen To-go-verpackungen, die jährlich in Deutschland zustande kommen, durch unsere Becher und Schalen ersetzen.“Seitdem klar ist, dass die Mehrwegpflicht eingeführt wird, haben Pachaly und seine Kollegen noch mehr zu tun. Erst im Mai sagte er in einem Interview, dass sein Start-up „in den letzten drei, vier Monaten um fast 30 Prozent gewachsen ist“. Bei Kleingastronomen sei man bereits etabliert, nun werde mit den Ketten verhandelt. Mit dem Branchenriesen unter den Essenslieferdiensten, Lieferando, sei man im Gespräch. Die Idee: Kundinnen und Kunden sollen bei der Onlineessensbestellung auf „Mehrweg“klicken. Das dreckige Geschirr können sie später dem nächsten Lieferboten mitgeben. In Berlin wird das aktuell mit einem kleineren Lieferdienst getestet, München soll bald folgen.
Der 26-jährige Pachaly will die Welt verbessern und etwas gegen ihre Vermüllung unternehmen. Nach den ersten Recup-jahren habe er „ein viel höheres Umweltbewusstsein in der Bevölkerung“festgestellt, sagt er mit Stolz in der Stimme. Gerade jüngere Leute scheinen umzudenken und seine Beobachtung zu stützen. Wie die drei Bewohner einer Männerwohngemeinschaft in Augsburg, alle unter 30. Wenn der Essenslieferant mit Mehrwegschalen zu ihnen käme, fänden sie das gut. Bis zu vier Mal in der Woche bestellen sie sich etwas – Reisnudeln mit Tofu, Sushi, Pizza. Das schlechte Gewissen bestellt mit. Ernst schauen sie vor Kurzem an einem Abend auf den Stapel aus Plastikschalen und -deckeln auf ihrem Esszimmertisch. Alles Einweg, alles reif für die Tonne.
Es ändert sich was. Aber von alleine ändert es sich nicht. Erol Duman blickt sich um in seinem Orient Express. „Vielleicht bringe ich Hinweisschilder an“, sagt er. Die sollen auf die Möglichkeit hinweisen, eigene Mehrwegbehälter mitbringen zu können. Vorschreiben möchte er das nicht, er wolle niemanden vergraulen. Hinweisschilder? Warum eigentlich nicht?
Dumans Idee lässt sich wissenschaftlich mit dem Begriff „Nudging“umschreiben. Damit ist eine Art Anstupsen gemeint – ein Schubser, in diesem Fall hin zu einer umweltbewussteren Verhaltensweise. Einer, der sich mit diesem Stupsen und Schubsen auskennt, ist Johannes Schuler. Der Konsumentenpsychologe ist Projektleiter am Fraunhofer-institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe. „Unter Nudging versteht man die Veränderung der Entscheidungsumwelt, die eine Wahloption wahrscheinlicher macht, ohne dabei die Wahlfreiheit des Konsumenten einzugrenzen“, erklärt er. Diese Veränderung müsse jedoch freiwillig vor sich gehen. Nudging als Methode, nachhaltigeren Konsum zu fördern? Um in der Gastronomie ein umweltfreundlicheres Verhalten zu lenken? Zwei Strategien nennt Schuler, um das zu erreichen: Das Personal in der Gastronomie könnte jetzt schon Mehrweggeschirr als Standard und Einweggeschirr nur auf Nachfrage ausgeben. Oder man setze auf finanzielle Anreize und biete, so Schuler, die nachhaltigere Variante günstiger an.
Die Realität sei eine andere: Mehrweg-pfandsysteme und die Beschränkung auf – vergleichsweise noch – wenige Teilnehmerrestaurants erschienen Kundinnen und Kunden bisher als zu unattraktiv. Wenn diese Systeme erfolgreich sein wollten, müssten sie einfach und praktisch sein. Nudging als Maßnahme reiche zur deutlichen Reduzierung von Einwegplastikgeschirr nicht aus, deswegen sei das Eu-verbot von Wegwerfprodukten aus Kunststoff sinnvoll, sagt der Konsumentenpsychologe.
Deutschland auf dem Weg zum Mehrweg-land. Doch sind Mehrwegbehältnisse überhaupt nachhaltiger? Die Antwort darauf findet sich in einer Studie des Ecologinstituts für sozial-ökologische Forschung und Bildung. Und das stellt Mehrwegverpackungen bei einer hinreichenden Zahl von Nutzungszyklen tatsächlich als umweltfreundlichere Alternative dar. In Bezug auf die Emissionen von Treibhausgasen bei der Herstellung reiche es in der Regel, eine Mehrwegverpackung zehn bis 15 Mal zu nutzen, um gegenüber einer Einwegverpackung eine positive Bilanz zu erzielen.
Und das Gastgewerbe? Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband befürchtete im Mai eine finanzielle Mehrbelastung. Johann Britsch, Bezirksvorsitzender für Schwaben des Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga Bayern, sagt: Er sei „Feuer und Flamme“für ein nachhaltiges Konzept. In seinem Hotel- und Landgasthof Hirsch in Finningen im Kreis Neu-ulm setze er verrottbares Einweggeschirr ein. Seine anfängliche Skepsis habe sich gelegt. So schnell wie möglich will er auf Mehrweg umschwenken – auch wenn dies mit größerem Aufwand verbunden sei. Im Kollegenkreis warb er für ein Pfandsystem. Die Diskussionen darüber hätte er sich gerne erspart, meint er. Nach wie vor gibt es Vorbehalte.
In seinen Augen müsste die Politik ein einheitliches Mehrwegsystem durchsetzen. Denn Johann Britsch hat die Sorge: Viele Anbieter könnten auf der Strecke und damit viel Geschirr ungenutzt bleiben. Es wäre das Gegenteil von Nachhaltigkeit.