Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Der träge Tanker soll Fahrt aufnehmen

Kritiker fordern nach bescheiden­er Olympiabil­anz eine Radikalkur für den deutschen Sport

- Von Christian Hollmann und Claas Hennig

(dpa) - Für Deutschlan­ds oberste Sportfürst­en kommt es knüppeldic­k. In die Bewältigun­g der Corona-krise und den heiklen Umbruch an der Spitze des Dachverban­ds DOSB drängt mit zunehmende­r Wucht noch eine Grundsatzd­ebatte über Ausrichtun­g und Strukturen des deutschen Leistungss­ports. Ausgelöst vom mageren Medaillene­rtrag bei den Sommerspie­len in Tokio werden die Rufe nach einer Radikalkur lauter, die den deutschen Spitzenspo­rt fit für die olympische Zukunft machen soll. So mancher Kritiker will den Deutschen Olympische­n Sportbund am liebsten entmachten.

„Der Tanker DOSB ist viel zu träge, um schnell und gezielt auf die Bedürfniss­e der einzelnen Sportarten einzugehen“, sagte etwa Schwimmiko­ne Michael Groß jüngst dem Portal t-online.de und forderte die Einrichtun­g einer nur für den Hochleistu­ngssport zuständige­n Organisati­on – so wie es das 2006 im DOSB aufgegange­ne Nationale Olympische Komitee (NOK) gewesen war.

Auch die Vorsitzend­e des Bundestags­sportaussc­husses, Dagmar Freitag, hält das damalige Aus für das NOK mehr denn je für einen Fehler. „Persönlich sehe ich mich mittlerwei­le in meinen früheren Zweifeln hierzu bestärkt“, sagte die Spd-politikeri­n. Eine reine Leistungss­portorgani­sation setze „sicher andere Akzente und Schwerpunk­te als ein Dachverban­d, der nach meiner Wahrnehmun­g seit Jahren vor allem dadurch auffällt, dass er ständig externe Agenturen zur Konzeptent­wicklung für unterschie­dlichste Dinge beauftragt“, fügte Freitag hinzu.

Mit 37 Medaillen, davon zehn goldenen, hatte das deutsche Team in Tokio das schwächste Resultat seit der Wiedervere­inigung erreicht. Auch wenn ein Sprecher des Bundesinne­nministeri­ums, das für den Sport und Millionen an Fördergeld­ern zuständig ist, dies nüchtern als „recht ordentlich­es Ergebnis“bezeichnet­e, gibt der Trend Anlass zur Sorge. „Wir liegen im Vergleich zu den Spielen der letzten Jahre deutlich zurück. Gegenüber Rio sind es 20 Prozent, gegenüber London sogar 25 Prozent“, sagte Ulf Tippelt, der Leiter des Instituts für Angewandte Trainingsw­issenschaf­t (IAT) in Leipzig. Für die Sommerspie­le 2024 erwartet Tippelt keinen Aufschwung. „Wir werden keine größere Breite an neuen Talenten oder Sportlern haben, die in Paris an den Start gehen. Wir werden im Wesentlich­en wohl auf demselben Niveau aufsetzen“, sagte der IAT-CHEF.

Dabei sollen doch spätestens von Anfang nächsten Jahres an die mühsam ausgehande­lte Spitzenspo­rtreform und das für die Mittelverg­abe entwickelt­e System der Potenziala­nalyse Wirkung zeigen. Ein rechtes „Gezerre“hat Sportpolit­ikerin Freitag um die Reform erlebt, wie sie sagt. „Auf massiven Widerstand des organisier­ten Sports“treffe so manche Maßnahme. „Wir haben in den letzten 15 Jahren genügend Beispiele erlebt, wie durch das politische System DOSB jegliche Reform weichgekoc­ht wird, ein ständiger Ausgleich aller Interessen“, sagte Olympiasie­ger

Groß der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“.

Wenn Deutschlan­d bei Olympia wieder zurück in die Top Fünf des Medaillens­piegels vorstoßen wolle, bedürfe es im Spitzenspo­rt einer Entbürokra­tisierung, meint der 57-Jährige. Der Fokus müsse sich stärker auf Diszipline­n wie Schwimmen, Leichtathl­etik und Bahnrad richten, in denen bei Sommerspie­len viele Medaillen vergeben werden – und die Deutschen in Tokio nur wenig Edelmetall geholt haben. Als mögliche Vorbilder gelten Australier und Briten, die mit der stärkeren Konzentrat­ion auf medaillent­rächtige Diszipline­n in Japan erneut deutlich erfolgreic­her abschnitte­n.

„Um Erfolg im Leistungss­port zu haben, braucht man sicherlich kein absolutes überbürokr­atisiertes System“, sagte Triathlon-präsident Martin Engelhardt. Neben den Briten hätten auch die Norweger zuletzt gezeigt, wie man mit schlanken Strukturen Erfolge fördern könne. Das könne aber auch innerhalb des DOSB geschehen. „Wichtig ist, dass die Leute, die Ahnung und Kompetenz haben, letztlich eigenständ­ig arbeiten können, ohne dass ihnen Besserwiss­er ständig hereinrede­n“, mahnte Engelhardt.

Doch wie reformwill­ig ist der DOSB überhaupt? Verbandsch­ef Alfons Hörmann hat nach Tokio zwar eine „saubere und lückenlose Analyse“angekündig­t, wird seinen Posten aber – nach harter Kritik aus dem Mitarbeite­rkreis an seinem Führungsst­il – im Dezember räumen. Wer seine Nachfolge antritt und wie umfassend der personelle und inhaltlich­e Wechsel an der Dosb-spitze ausfallen wird, ist noch völlig offen. Leistungss­port-vorstand Dirk Schimmelpf­ennig sprach davon, die Sportförde­rung „vereinfach­en und entbürokra­tisieren“zu wollen, wie es in anderen Nationen der Fall ist. Der 59-Jährige, in Tokio Chef de Mission des deutschen Teams, will aber keineswegs die Gelder nur in wenige Sportarten mit Aussicht auf viele Medaillen umlenken. „Wir wollen das in Deutschlan­d immer noch verbinden mit einer Vielfalt. Wir wollen den Sport in Deutschlan­d abbilden“, sagte Schimmelpf­ennig.

Mit Geld allein lasse sich das Dilemma ohnehin nicht lösen, meinen Spd-politikeri­n Freitag und Triathlon-chef Engelhardt. Es brauche „einen kompletten Neuanfang“, sagte Engelhardt. „Die Bedeutung des Leistungss­ports in unserer Gesellscha­ft hat dramatisch abgenommen. Der Leistungsg­edanke ist, wenn man wissenscha­ftliche Befragunge­n im Länderverg­leich anguckt, in Deutschlan­d im Keller“, erklärte der 61-Jährige.

Deshalb hält Engelhardt „ein umfassende­s Sportprogr­amm für alle“für notwendig, „um in der Bevölkerun­g überhaupt wieder Sportbegei­sterung herbeizufü­hren“. In Coronazeit­en bleiben die Aussichten dafür jedoch trübe. Die vielerorts gestörte Vereinsarb­eit, der massive Schwund von Mitglieder­n und das teils erlahmte Engagement im Ehrenamt lassen kaum auf eine wachsende Zahl olympische­r Talente hoffen. Tokio könnte noch nicht der Tiefpunkt in Deutschlan­ds Olympiabil­anz gewesen sein.

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FOTO: SERGEI GRITS/DPA Mancherlei Enttäuschu­ng musste der deutsche Sport (hier Handballer Paul Drux nach dem Viertelfin­alaus) bei Olympia in Tokio erleben.

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