Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Großes Drama im eigenen Garten
Ein Dreigestirn, welches Sie in Ihrem Garten vermutlich schon häufig beobachtet haben, ist das von Blattlaus, Ameise und Marienkäfer. Auf den ersten Blick läuft dieses Zusammenleben auf einem Pflanzentrieb in vollständiger Harmonie ab. Wenn Sie das allerdings genauer beobachten, sehen Sie, dass sich dort die ganz großen Dramen abspielen, die eher an das Wechselspiel eines antiken Schauspiels erinnern.
Als erstes betritt die Blattlaus die Bühne und bohrt zugleich ihren spitzen Mundspeer tief in die Leitbahn der wehrlosen Pflanze. Gierig saugt sie den Pflanzensaft. Angelockt von den süßen Ausscheidungen der Laus, kommt die Ameise ins Spiel. Vorsichtig nimmt sie jedes einzelne Tröpfchen davon auf und trägt die zuckerhaltige Kostbarkeit geschickt und emsig zu ihrer Brut. In einer späteren Szene taucht als weiterer Akteur der Marienkäfer auf, der die Blattlaus zum Fressen gern hat. Daraufhin zeigt die Ameise plötzlich ihre andere Seite und vertreibt den Nebenbuhler mit fast schon aggressiver Vehemenz. Die Liaison zwischen Blattlaus und Ameise scheint ausgeglichen, jedoch trügt der Schein. Sobald die Blattlaus den Versuch beginnt, aus dieser Beziehung auszubrechen und sich Flügel wachsen lässt, um den Pflanzentrieb zu verlassen, wird die Ameise aktiv, indem sie die Flügel durch ihre scharfen Mundwerkzeuge verstümmelt und Substanzen absondert, die das Flügelwachstum unterbinden.
Arme Laus, denken Sie jetzt bestimmt. Vielleicht kommt Ihnen sogar der Gedanke, künftig die Ameise statt der Blattlaus zu bekämpfen. Davon kann ich nur abraten. Aus Sicht der Natur ist alles in bester Ordnung, denn jedes Lebewesen hat seine Relevanz. Und keine Sorge: Der Marienkäfer findet immer wieder einen von der Ameise unbewachten Platz, um ohne Reue eine Laus nach der anderen zu vertilgen.
Tina Balke ist Pflanzenärztin. Garten- und Zimmerpflanzenbesitzer wenden sich ebenso an sie wie Profigärtner, die Probleme mit erkrankten oder schädlingsbefallenen Pflanzen haben und wissen wollen, wie sie diese loswerden. Die Diplom-agraringenieurin und promovierte Phytomedizinerin bietet Pflanzensprechstunden online, Vorträge und in der Region Bodensee-oberschwaben Gartenberatungen vor Ort an: www.die-pflanzenaerztin.de
Leise glucksen die Paddelschläge im Flüsschen Raudna. Spechte trommeln. Irgendwo ruft ein Kauz. Mücken surren über dem Wasser, das den hellen Sommerhimmel spiegelt. Der Wald von Soomaa spricht viele Sprachen. Wenn Indrek Vainu schweigend durch die Wildnis des estnischen Nationalparks paddelt, horcht er, ob sich im Halbdunkel des Waldes ein unbekanntes Geräusch abhebt. Durch den Nationalpark streifen noch immer Bären, Wölfe und Luchse. Direkt vor Vainus Kanu bewegt sich etwas. Es ist ein Biber. „Das hier ist ihr Reich“, sagt Vainu, nachdem das Kanu weiter fast lautlos in den Wald vorgedrungen ist. „Sie sind die Einzigen, die hier Bäume fällen sollten.“Seit Jahren hat der Waldaktivist dokumentiert, wie rund um den Soomaa-nationalpark und in anderen Teilen Estlands selbst in Schutzgebieten große Flächen kahl geschlagen wurden.
Wären die Biber die Einzigen, die in den estnischen Wäldern die Bäume fällen, Indrek Vainu wäre heute wohl kaum einem außerhalb von Soomaa bekannt. Unter den wenigen Einheimischen mag der Aussteiger als Sonderling gelten, der zurückgezogen mit seiner kleinen Familie in einer selbst gebauten Hütte lebt. Weil er sich aber immer wieder mit der Holzindustrie und der Politik anlegt, ist Vainu inzwischen einer der bekanntesten Waldaktivisten des Landes und wurde mehrfach bedroht. „Die Leute denken, ich bin der Radikalste in Estland“, sagt er, „Das bin ich nicht. Wir haben nur keine Zeit mehr für Höflichkeiten.“
Laut der europäischen Umweltorganisation FERN und Greenpeace wurden zwischen 2008 und 2018 in Estland 1663 Hektar in Natura-2000gebieten und 5700 Hektar weiterer Waldflächen mit Schutzstatus gerodet, das entspricht insgesamt fast der Fläche des Nationalparks Kellerwald-edersee oder des Hainich-nationalparks. Die Zeitung „Postimees“gibt allein für die Größe der zwischen 2001 und 2019 gerodeten Natura-2000-wälder 15 000 Hektar an.
Laut estnischer Naturschutzorganisationen hat die Intensität der Rodungen in den letzten drei Jahren noch zugenommen. Der Streit zwischen Umweltschützern und der Holzindustrie ist inzwischen zu einem regelrechten Kulturkampf angewachsen. In der Hauptstadt Tallinn kam es zuletzt immer wieder zu Demonstrationen.
Indrek Vainu selbst kam vor fünfzehn Jahren aus Tallinn zum Paddeln in den Soomaa-nationalpark. Der Psychologe und Wirtschaftsinformatiker arbeitete damals für eine führende Bank und hatte große Karrierepläne. Doch Soomaa ließ ihn nicht mehr los. Er fand heraus, dass die Gegend, wo er gerade zum Paddeln war, einem Holzeinschlagunternehmen gehörte. „Ich habe denen ein Angebot
gemacht und kurzerhand das Land gekauft.“2017 gab der inzwischen Selbständige seine It-firma schließlich ganz auf und zog sich völlig in den Wald zurück.
Gemeinsam mit anderen Aktivisten setzt sich Vainu für einen Stopp des Kahlschlags ein. „Die Behörden geben an, dass alles unter den bestehenden Auflagen geschieht“, sagt Vainu. „Tatsächlich kann das kaum jemand überprüfen und dass macht sich die Industrie zunutze.“Zudem sei die Argumentation von Politikern und der Holzindustrie, die Kahlschlagflächen wieder aufzuforsten, eine Farce. „Du kannst einen Baum pflanzen, aber keinen Wald“, sagt Vainu, schon gar kein über Jahrzehnte oder Jahrhunderte gewachsenes Ökosystem.“
Während Befürworter den Kahlschlag mit der Gewinnung klimafreundlicher Biomasse rechtfertigen, für die Fördergelder von der EU winken, halten Umweltschützer diese Klimapolitik für äußerst fragwürdig. Sie sehen hinter den Rodungen reine Profitgier und die Zerstörung des Lebensraums bedrohter Arten. Vainu wirft skandinavischen und estnischen Unternehmen wie Graanul Invest, einem der größten europäischen Pellethersteller, und korrupten Politikern vor, Daten zu Rodungen zu manipulieren. In den letzten Jahren wurden von Naturschutzverbänden mehrere Klagen eingereicht. Im Juni forderte die Europäische Kommission Estland auf, die Eu-habitats-richtlinien insbesondere beim Holzeinschlag in Natura-2000gebieten einzuhalten.
„Es geht dennoch weiter“, sagt Vainu. Jeden Tag würde in Schutzgebieten Wald gefällt, auch wenn Marku
Lamp, stellvertretender Generalsekretär des Umweltministeriums die Unrechtmäßigkeit bestreitet. Vainu wirft ihm vor, die Interessen der Pelletindustrie gegen alle Einwände zu fördern. Der Aktivist nutzt seinen Hintergrund in der It-branche, um eigene Daten zu den Kahlschlägen zu sammeln und Naturschützer zu vernetzen. „Die Behauptung des Umweltministeriums, dass die estnischen Gesetze unsere Wälder gut schützen, ist nicht wahr“, sagt Vainu. Aus neuesten Analysen gehe hervor, dass auf Gebieten, die unter das Naturschutzgesetz fallen, fast 10 000 Abholzungsgenehmignungen mit einer Gesamtfläche von mehr als 8000 Hektar gelten. Vorgeschriebene Umweltverträglichkeitsprüfungen blieben häufig aus. „Unser Kampf geht weiter“, sagt Vainu.
In Alutaguse im Nordosten Estlands wandert Bert Rähni durch einen lichten Espenwald. „Solche Orte lieben die Flughörnchen“, sagt der Veranstalter für Naturreisen. Die Nager gleiten mit ihrer ausgespreizten Flughaut bis zu 35 Meter von Baum zu Baum. Rähni bietet Touren an, um die Tiere zu beobachten. „Sie sind in letzter Zeit sehr selten geworden“, sagt er. Die Rodungen von alten Wäldern setzen der Art besonders zu. Sie gilt als vom Aussterben bedroht.
Im Schlamm hat Rähni eine frische Bärenspur entdeckt. In Estland leben mehr als 800 Braunbären. Nirgendwo sonst in Europa gibt es eine dichtere Population. Die Tiere zogen vor der Pandemie viele Touristen an. Bereits 2017 hatten mehr als 30 Reiseveranstalter und Tourismusunternehmen einen offenen Brief an das Umweltministerium geschrieben. „Die ständig fortschreitenden Abholzungen widersprechen dem internationalen Bild Estlands als ein Land unberührter Natur und geschützter Wälder“, heißt es darin.
Auch für Rähnis kleines Unternehmen Natourest ist die Situation bereits zur Bedrohung geworden. Eigens für die Bärenbeobachtung bietet er Übernachtungen in einer Hütte an einer Lichtung an. Der Wanderpfad dorthin führt durch einen dichten Nadelwald. Irgendwann steht er vor einer Kahlschlagfläche. Abgehackte Baumstümpfe zeugen davon, dass hier vor nicht allzu langer Zeit Kettensägen am Werk waren. „Es war ein Schock“, sagt er mit Blick auf die klaffende Lücke im Wald. „Die Rodungen könnten fast bis zu unserer Bärenhütte weitergehen, weil dies hier kein Schutzgebiet ist.“Noch aber kommen die Bären regelmäßig auf Rähnis Lichtung. Wenn die mächtigen Tiere in den Sommernächten von Alutaguse urplötzlich auftauchen, halten in der Beobachtungshütte alle den Atem an.
Inzwischen hat Rähni in einem anderen Teil von Alutaguse zwei weitere Hütten aufgestellt und 86 Hektar Land gekauft. „Wir nutzen aber nur zwei Hektar für unsere Aktivitäten“, sagt er, „der Rest bleibt sich selbst überlassen.“Er hofft, dass der estnische Wald weiter Heimat von Braunbären, Auerhähnen und Flughörnchen bleibt. „Ohne sie kommen keine Touristen“, sagt er, „sie sind der wahre Wert des Waldes.“