Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

„Demokraten müssen eine Brandmauer ziehen“

In Erinnerung an den Zentrumspo­litiker Matthias Erzberger ruft Bundespräs­ident Frank-walter Steinmeier alle Demokraten zum Eintreten gegen Hass und Hetze auf

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Heute vor einhundert Jahren wurde Matthias Erzberger während eines Spaziergan­gs im Schwarzwal­d von rechtsradi­kalnationa­listischen Terroriste­n erschossen. Die Kugeln der Mörder trafen einen leidenscha­ftlichen und streitlust­igen Parlamenta­rier; einen Vermittler, der Brücken zwischen den Parteien baute und Koalitione­n schmiedete; einen Pragmatike­r, der sich nicht an Illusionen, sondern an der Wirklichke­it orientiere­n wollte. Sie trafen einen Außenpolit­iker, der seit 1917 für Frieden und internatio­nale Verständig­ung kämpfte und mit seiner Unterschri­ft den Ersten Weltkrieg beendet hatte. Und sie trafen den ehemaligen Finanzmini­ster und Vizekanzle­r der Weimarer Republik, der sich unermüdlic­h für die „kleinen Leute“und für soziale Gerechtigk­eit einsetzte.

Matthias Erzberger war kein Held und kein Heiliger; er war nicht frei von Widersprüc­hen, Irrtümern und Fehlern; er korrigiert­e im Laufe seines Politikerl­ebens manche Position und passte sich an neue Gegebenhei­ten an. Seiner Ermordung ging eine beispiello­se Hetz- und Verleumdun­gskampagne voraus. Als Landesverr­äter und korrupt wurde er von jenen beschimpft, die nicht wahrhaben wollten, dass das deutsche Kaiserreic­h den Weltkrieg verloren hatte. Antisemite­n verbreitet­en, er sei kein Katholik, sondern der nicht eheliche Sohn jüdischer Eltern. Verschwöru­ngstheorie­n und Fake News gab es schon damals.

„Ein Demokrat in Zeiten des Hasses“– so ist Erzberger einmal genannt worden. Die Frage ist: Wie steht es heute, in unseren Zeiten um Hass und Demokratie? Das Gefühl einer neuen Verrohung der politische­n Auseinande­rsetzung ist weit verbreitet: Mehr als zwei Drittel aller Bürgermeis­terinnen und Bürgermeis­ter haben schon einmal Beleidigun­gen, Bedrohunge­n oder Gewalt erlitten; die Zahl

Vom Bundespräs­identen Frank-walter Steinmeier der politisch motivierte­n Straftaten ist im vergangene­n Jahr deutlich gestiegen; und mit Walter Lübcke wurde vor zwei Jahren zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepu­blik ein Amtsträger Opfer eines politische­n Mordes. Keine Frage, eine Demokratie braucht die

Debatte, braucht Streit und Konflikt – aber für Gewalt gibt es niemals eine Rechtferti­gung; Gewalt will die Freiheit ersticken, Gewalt tötet jede Demokratie! Es gehört zum tragischen Erfahrungs­schatz der deutschen Geschichte, dass Demokraten stets eine ganz klare Brandmauer

ziehen müssen gegen alle, die Hass und Hetze verbreiten und die Gewalt als Mittel der politische­n Auseinande­rsetzung rechtferti­gen. In Weimar hat es daran gefehlt. Staat und Gesellscha­ft dürfen diejenigen Demokraten, die Opfer von Hass und Gewalt werden, auch niemals wieder alleinlass­en. Ich habe daher die Schirmherr­schaft über die Initiative „Stark im Amt“übernommen, die mit Unterstütz­ung der Körberstif­tung den vielen ehrenamtli­chen Kommunalpo­litikern beisteht, die inzwischen viel zu oft attackiert werden. Und die Justiz braucht die notwendige­n Mittel, um auch Beleidigun­gen und Bedrohunge­n, die im Internet begangen werden, aufklären und ahnden zu können.

Viel zu lange wurde Matthias Erzberger die verdiente Anerkennun­g verweigert. Es ist gut, dass dieser heimatverb­undene Schwabe, der ein mutiger Wegbereite­r der Demokratie in Deutschlan­d war, mittlerwei­le vielerorts geehrt wird – nicht nur in Buttenhaus­en und Biberach, sondern auch in Berlin.

Wenn es mit Blick auf den Erzberger-mord eine ganz aktuelle Lehre gibt, dann die, dass eine Demokratie von innen erodiert, wenn ihre Bürgerinne­n und Bürger, auch wohlsituie­rte, sich hinreißen lassen zu obskuren Lügen, zu irrational­en Fantasmen, zu hasserfüll­ten Gewaltaufr­ufen. Und doch geschieht dies gerade in diesen Zeiten wieder viel zu oft. Das Schicksal von Matthias Erzberger mahnt uns, wie brandgefäh­rlich dies für unsere Demokratie ist.

Der Text ist die gekürzte und überarbeit­ete Fassung einer Rede, die Bundespräs­ident Steinmeier bei einer Gedenkvera­nstaltung für Matthias Erzberger am 17. August 2021 im Schloss Bellevue in Berlin gehalten hat.

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