Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Die Taliban sind ihnen zu lasch
Welche Gefahr die Terrorgruppe „Islamischer Staat –Khorassan“für Afghanistan bedeutet
- Im Chaos und in den Umwälzungen in den vergangenen Wochen war die Terrormiliz Islamischer Staat in Afghanistan fast in Vergessenheit geraten. Nun hat sich ihr Ableger „Islamischer Staat – Khorassan“(ISK) zu dem verheerenden Anschlag am Flughafen Kabul bekannt. Was über die Terrorgruppe bekannt ist – und wie die Taliban reagieren werden.
Was macht ISK so gefährlich?
Die Gruppe wurde im Sommer 2014 gegründet. Der von der ostafghanischen Provinz Nangarhar aus operierende ISK wirft den Taliban „Verrat am Islam“vor. Nach dem Beginn der Verhandlungen mit den USA in Katar hätten die neuen Machthaber in Kabul den Dschihad aufgegeben, behauptet der ISK, dessen Kerngruppe aus rund 2000 Kämpfern besteht. Der extrem gewalttätigen und ideologisch fundamentalistischen Gruppe, auf deren Konto Dutzende von Anschlägen gehen, haben sich neben Pakistanern und frustrierten Taliban-kämpfern auch Angehörige der kampfkräftigen Islamischen Turkistan-partei angeschlossen. Zu ihr gehören chinesische Uiguren, Usbeken sowie Tschetschenen, die bis vor anderthalb Jahren in Idlib in Nordwestsyrien kämpften. Ihr Gegner war das Assad-regime. Inzwischen haben viele Kämpfer dieser Gruppe Syrien verlassen. In Afghanistan finden sie ein neues Betätigungsfeld.
Warum geht der ISK gerade jetzt in die Offensive?
Aus Sicht der Terroristen ist der Zeitpunkt gut gewählt: Der bedingungslose Rückzug der USA aus Afghanistan und die Machtübernahme der Taliban biete dem ISK das „freizügigste Umfeld für seine Aktivitäten“, analysiert Amira Jadoon, Assistenzprofessorin an der Us-militärakademie von West Point. Hauptziel der Gruppe sei es jetzt, politisch relevant zu bleiben, die Bemühungen der Taliban um Stabilität zu stören und so die Glaubwürdigkeit der neuen Machthaber in Kabul zu untergraben. Der IS und andere Dschihadistische Terrorgruppen konnten in der Vergangenheit überall dort Erfolge verbuchen, wo der Staat scheiterte und der Terror blühte – etwa im Irak, in Syrien, Libyen und Somalia. Das könnte sich jetzt in Afghanistan wiederholen.
Wie werden die Taliban auf diese Herausforderungen reagieren?
Die Taliban hatten von 1996 bis 2001 bewiesen, dass sie in Afghanistan vordergründig eine gewisse Stabilität erreichen konnten – indem sie die Bevölkerung terrorisieren. Das könnten sie nun wiederholen, vielleicht in einer geringfügig abgeschwächten Form. Vor dem Hintergrund der jüngsten Terroranschläge werden die Taliban argumentieren, dass sich das Land nur mit eiserner Faust regieren lässt. Paradoxerweise könnten die Taliban bei der Bekämpfung des ISK mit Luftunterstützung der USA rechnen.
Sitzen die Taliban und die USA jetzt also in einem Boot?
Gewissermassen. Die USA sind mit ihrem überstürzten Abzug für die sich anbahnende schwere Krise in Afghanistan verantwortlich. Und Us-präsident Biden hat bereits Rache für die in Kabul getöteten Soldaten angekündigt (siehe Text unten). Das heißt nichts anderes, als dass Angriffe aus der Luft, womöglich mit Drohnen, fortgesetzt werden. Bei der Auswahl der Ziele brauchen die
USA die Unterstützung der Taliban. Sie könnten nach amerikanischen Attacken den ISK leichter bekämpfen. Solche taktischen Allianzen gab es auch vor rund fünf Jahren, als iranische Revolutionsgardisten und die US Air Force den IS gemeinsam bekämpften, ohne dies an die große Glocke zu hängen.
Wie hoch ist das Risiko?
Sollten sich die Taliban als Verbündete der USA darstellen lassen, würden der „Islamische Staat“und dessen afghanischer Arm dies für ihre eigene Propaganda nutzen können. Der ISK wird jetzt wohl versuchen, mit weiteren Terrorattacken das Land zu destabilisieren. In der aktuellen instabilen Lage dürfte das nicht so schwer sein.
Der Westen steht jetzt vor einem Dilemma: Unterstützt er – direkt oder indirekt – die Taliban, hilft er einer extrem fundamentalistischen Gruppe, sich an der Macht zu behaupten. Oder er riskiert einen Bürgerkrieg, was am Ende eine Renaissance „Islamischen Staates“und seiner lokalen Ableger bedeuten könnte.
Es ist eine Wahl zwischen Pest und Cholera, sagte am Freitag Peter Neumann, Terrorismusforscher am Londoner Kings College. Er hält einen neuen Bürgerkrieg in Afghanistan allerdings für die gefährlichere der möglichen Varianten.
Die afghanische Is-filiale nennt sich Khorassan. Wo liegt eigentlich dieses Khorassan?
Khorassan kann mit „Land der Sonne“übersetzt werden. Es bezieht sich auf eine historische Region, die im 3. Jahrhundert von der sassanidischen Dynastie, dem letzten iranischen Reich vor dem Aufkommen des Islam, gegründet wurde. Es umfasst den nordöstlichen Iran, das südliche Turkmenistan sowie grosse Teile von Afghanistan.
Die Is-dschihadisten verwenden den Begriff „Khorassan“vor allem deshalb, weil sie die Legitimität der modernen Nationalstaaten ablehnen. Sie bevorzugten historische Begriffe, welche in der Zeit der grossen islamischen Kalifate verwendet wurden, zu denen sie jetzt zurückkehren wollten, wie Terrorismusforscher Neumann erklärt.