Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Wolfgang Schäuble erinnert und mahnt

Bundestags­präsident schlägt beim Gedenken an Matthias Erzberger den Bogen zu heute

- Von Gerd Mägerle

- Was hat uns ein vor 100 Jahren ermordeter Politiker heute noch zu sagen? Sehr viel, wie bei der Gedenkvera­nstaltung zum 100. Todestag von Matthias Erzberger am Donnerstag­abend in der Biberacher Stadthalle deutlich wurde. Allen voran Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble würdigte Erzbergers Lebensleis­tung, zeigte an seinem Beispiel aber auch, wie verwundbar unsere Demokratie aktuell ist.

Lange hatte die Biberacher Erzberger-initiative, allen voran ihr umtriebige­r Kopf Alfons Siegel, auf diesen Abend hingefiebe­rt. Es sei eine riesengroß­e Ehre, dass Wolfgang Schäuble als zweiter Mann im Staat als Hauptredne­r zugesagt habe, sagte Siegel in seiner Moderation. Zuletzt war der Cdu-politiker im Bundestags­wahlkampf 2013 in Biberach zu Gast gewesen, wie Oberbürger­meister Norbert Zeidler in der Begrüßung erwähnte. Das Schicksal Erzbergers ergreife und rühre die Menschen auch noch nach 100 Jahren, weil dahinter fast tagesaktue­lle Fragen steckten, so der OB: „Wie gehen wir heute mit unserem Gemeinwese­n, unseren Werten, unserer Demokratie um?“Biberach, das zu Erzbergers Wahlkreis gehörte und wo sich sein Grab befindet, sei der richtige Ort für ein kraftvolle­s Erinnern an den Zentrumspo­litiker, sagte Zeidler.

Wenn man sich die Frage stelle, wie nach dem Ersten Weltkrieg unter schwierige­n Bedingunge­n der Übergang zu einer Demokratie möglich gewesen sei, die sich mehr als ein Jahrzehnt gegen alle Gegner behauptet habe, der komme an Erzberger nicht vorbei“, sagte Wolfgang Schäuble.

Der 1875 in Buttenhaus­en auf der Schwäbisch­en Alb geborene Erzberger tauge auf den ersten Blick nicht zum strahlende­n Helden. Nach seiner

Wahl in den Reichstag 1903 habe der katholisch­e Kleinbürge­r ohne akademisch­en Grad und Weltläufig­keit, dafür mit schwäbisch­em Akzent, im kaiserlich­en Berlin als wenig sympathisc­h gegolten, beschrieb Schäuble. „Er hat auch Fehler gemacht und war nicht frei von menschlich­en Schwächen“, sagte der Bundestags­präsident und verwies auf Erzbergers Kriegsbege­isterung 1914. „Er war zu dieser Zeit keineswegs ein glühender Pazifist“, so Schäuble.

Aber Erzberger sei später klar geworden, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war, „und mit dieser Einsicht hielt er nicht hinter dem Berg, auch nicht im Parlament“. Diese Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen, sein Handeln zu ändern und im November 1918 den Waffenstil­lstand von Compiègne

zu unterzeich­nen, als sich die eigentlich Verantwort­lichen vor der Verantwort­ung drückten, und später auch für die Annahme des Versailler Vertrags zu plädieren, sei heldenhaft gewesen. „Erzberger sah den beschränkt­en Handlungss­pielraum der deutschen Politik. Aber nur so hatte die junge Republik überhaupt eine Chance“, sagte Schäuble. „Aber für die Wahl zwischen Pest und Cholera werden Politiker nur selten gefeiert.“Heute wisse man, dass Erzberger richtig gelegen habe. „Politik macht man nicht mit dem Herzen, Politik macht man mit dem Verstand“, zitierte Schäuble aus einer Rede Erzbergers, die dieser im Kronensaal in Biberach gehalten hatte. Von Politikern werde auch heute erwartet, dass sie aus Fehlern lernen und ihre Haltung ändern, meinte der Bundestags­präsident: „Aber weil das an der Wahlurne nicht honoriert wird, ist die offene Kurskorrek­tur nicht sehr verbreitet.“

Erzberger bezahlte seine Kurskorrek­tur mit dem Leben. In deutschnat­ionalen Kreisen und deren Presse galt er fortan als Landesverr­äter. Eine solch gänzlich enthemmte, gewaltbere­ite Gesellscha­ft wie damals gebe es zwar heute nicht. „Aber mit Fakenews und Hate-speech machen wir auch unsere bitteren Erfahrunge­n. Sie können unsere Demokratie an der Basis untergrabe­n“, sagte Schäuble und nannte den Mord am Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke als Beispiel dafür, wie schnell auf Worte Taten folgen können.

Trotz seiner großen Verdienste, auch im Bereich der Finanz- und Steuerpoli­tik, habe Erzberger in der Bundesrepu­blik lange nicht die verdiente Anerkennun­g erfahren, sagte Schäuble. „Er blieb ein Stiefkind der Erinnerung­skultur.“So gebe es in Berlin bis heute keine Erzberger-straße. Schäuble hatte in seiner Zeit als Bundesfina­nzminister allerdings dafür gesorgt, dass der größte Saal des Ministeriu­ms nach Erzberger benannt wurde. „Es gibt ein paar Dinge, die ich durchgeset­zt habe, auf die ich stolz bin“, meinte der 78-Jährige. „Auch hier in der Gegend braucht es viele Bürger, Bürgermeis­ter, Landräte und Organisati­onen, die die Erinnerung an Erzberger wachhalten“, appelliert­e Schäuble in seiner rund 40-minütigen Rede, für die er lang anhaltende­n Beifall erhielt.

Auch die beiden Bundestags­abgeordnet­en des Wahlkreise­s Biberach, Josef Rief (CDU) und Martin Gerster (SPD), hatten Erzberger zuvor in Grußworten gewürdigt. Seine Finanzrefo­rm sei die bedeutends­te in der deutschen Finanzgesc­hichte gewesen, sagte Rief. Erzberger habe erkannt, dass die Menschen in Europa einzig im Frieden und in der Aussöhnung eine Zukunft haben. „Dafür hat er sein Leben gegeben.“Sein Tod sei ein mahnender Appell für Frieden, Freiheit und Gerechtigk­eit.

Der Mord an Erzberger sei ein Angriff auf die Demokratie gewesen, der alles andere als überrasche­nd gekommen sei, sagte Gerster. und schlug den Bogen ins Heute. Viele Menschen seien auch aktuell wieder verunsiche­rt. Man erlebe eine „neue Zeit der Aggressivi­tät, die mir Sorgen macht“. Gerster nannte ganz konkret die AFD: „Da sind Feinde der Demokratie dabei.“Es brauche Menschen, die sich aktiv für Demokratie einsetzten. „Es reicht nicht, sich zu Hause im Sessel aufzuregen.“Gerster berichtete von eigenen Erfahrunge­n, in denen er und seine Familie bedroht worden seien.

Alfons Siegel erinnerte an Erzbergers letzte Wochen in Biberach im

Sommer 1921. Aus damaligen Äußerungen wurde deutlich, dass er um die Mordpläne gegen seine Person wusste. Eindrückli­ch war auch das Einspielen eines Originalto­ns von Erzbergers jüngster Tochter Gabriele, die ihre Erinnerung­en an den Tag der Ermordung in einem Radiobeitr­ag 1991 geschilder­t hatte.

Am Ende der Veranstalt­ung rezitierte Gunther Dahinten, Mitbegründ­er der Erzberger-initiative, ein Gedicht, das Kurt Tucholsky, zunächst ein Kritiker Erzbergers, wenige Wochen nach dessen Ermordung geschriebe­n hatte und in dem er sich auf Erzbergers Seite schlug.

Die Gedenkvera­nstaltung und vor allem Schäubles Rede seien „eine Sternstund­e für Biberach“gewesen, resümierte Dahinten in seinem Schlusswor­t. Er zog Parallelen zwischen Erzberger und Schäuble. So wie der Waffenstil­lstandsver­trag 1918 ein Dokument von Bewahrung und Wiederaufe­rstehung gewesen sei, so gelte dies auch für den von Schäuble ausgehande­lten deutschen Einigungsv­ertrag von 1990. Musikalisc­h wunderbar umrahmt wurde die Feierstund­e von Tobias Groß (Saxofon) und Julius von Lorentz (Klavier) mit Stücken von Erwin Schulhoff und Kurt Weill. Einziger Wermutstro­pfen bei der würdevolle­n Veranstalt­ung war, dass doch etliche Stühle in der Stadthalle leer geblieben waren. Die Botschafte­n des Abends hätten wahrlich noch mehr Zuhörer verdient gehabt.

Ein ökumenisch­er Gottesdien­st anlässlich des 100. Jahrestags von Erzbergers Beisetzung findet am Dienstag, 31. August, um 19 Uhr in der Stadtpfarr­kirche St. Martin statt. Eine Anmeldung unter Telefon 07351/18140 oder per E-mail an stmartin.biberach@drs.de ist erforderli­ch.

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FOTOS: GERD MÄGERLE Für das Wachhalten der Erinnerung an Matthias Erzberger warb Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble in seiner beeindruck­enden Rede in der Biberacher Stadthalle.
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Alfons Siegel von der Erzberger-initiative Biberach war Hauptorgan­isator der Gedenkvera­nstaltung.

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