Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Tiefe Wunden im Nahen Osten
USA begannen vor 20 Jahren den „Krieg gegen den Terror“– Nun ziehen sie sich zurück
- Mit den Anschlägen vom 11. September begann eine Ära, in der die USA vor allem im Nahen Osten den „Krieg gegen den Terror“führten. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zehn Jahre zuvor war Amerika die einzige verbliebene Supermacht und setzte auf militärische Stärke, um das Terrornetzwerk Al Kaida zu zerstören, feindliche Regime zu bekämpfen und – so der Anspruch – dem Nahen Osten die Demokratie zu bringen.
Heute steht fest: Der Versuch ist gescheitert. Zum 20. Jahrestag der Terroranschläge von New York und Washington erklärte der derzeitige Präsident Joe Biden die Zeit der militärischen Interventionen für beendet. Die USA würden keine Armeen mehr entsenden, um andere Länder umzuformen, sagte Biden nach dem Us-abzug aus Afghanistan im August.
Vom Hochmut der USA in den Jahren nach den September-anschlägen ist nichts mehr übrig. Der damalige Us-präsident George W. Bush und sein Verteidigungsminister Donald Rumsfeld erreichten zwar, dass es keine Anschläge wie die von 2001 mehr gegeben hat. Seit 2001 seien nur etwa 100 Amerikaner bei dschihadistischen Anschlägen im eigenen Land ums Leben gekommen, schrieb der Nahost-experte Michael O’hanlon von der Denkfabrik Brookings Institution in einer Analyse. Al-kaida-chef Osama bin Laden und Abubekir al-bagdadi, der Anführer des Islamischen Staates (IS), starben bei Us-militärschlägen.
Darüber hinaus hatte der „Krieg gegen den Terror“aber kaum Erfolg. „Was die Verbesserung der Stabilität im Nahen Osten und die weltweite Reduzierung des Terrorismus angeht, ist der sogenannte globale Krieg gegen den Terror weitgehend fehlgeschlagen“, bilanzierte O’hanlon.
Bushs Irakkrieg war die Geburtsstunde des IS, der mit vorher nicht gekannter Brutalität jahrelang große Teile vom Irak und Syrien beherrschte. In Afghanistan sind heute wieder die radikalislamischen Taliban an der Macht, die 2001 wegen ihrer Partnerschaft mit Al-kaida von den USA vertrieben wurden.
Nach einer Bilanz der Denkfabrik CSIS gab es im Jahr 2018 fast dreimal so viele radikalsunnitische Dschihadisten-gruppen wie im Jahr 2001. Der IS hat trotz der Zerschlagung seines „Kalifats“vor zwei Jahren noch immer mehr als 20 000 Kämpfer. Alkaida, die Terrorgruppe hinter den September-anschlägen, zählt laut CSIS mehr als 30 000 Bewaffnete.
Die Zivilbevölkerung in Staaten von Afghanistan über den Irak bis in den Jemen musste für den „Krieg gegen den Terror“bluten. Insgesamt kamen nach Zahlen der Us-universität Brown seit 2001 in der Region mehr als 800 000 Menschen bei Anschlägen und Kämpfen ums Leben, die meisten in Afghanistan und im Irak. Fast 40 Millionen Menschen verloren ihre Heimat.
Schon wenige Jahre nach 2001 waren die Amerikaner den neokonservativen Feldzug für die Freiheit leid. Bushs Nachfolger Barack Obama und Donald Trump versprachen ihren Wählern ein Ende der Kriege im Nahen Osten. Biden hat dieses Versprechen jetzt eingelöst – weil er andere Prioritäten hat: Er will sich auf die globale Auseinandersetzung mit China konzentrieren.
Zurück bleibe ein Scherbenhaufen, lautet das Fazit vieler Experten. Bushs Regierung sei nach dem Schock des 11. September nicht nur von Angst und Entrüstung getrieben worden, schrieb der Autor Jordan Michael Smith im Magazin „New Republic“. Auch Allmachtsphantasien, Kompromisslosigkeit und das Vertrauen in das Militär als Instrument politischer Veränderungen bestimmten die amerikanische Politik.
Die Amerikaner suggerierten ihren Partnern im Nahen Osten, dass sie ihnen im Kampf gegen interne und regionale Gegner dauerhaft beistehen würden. Immerhin kämpfte Al-kaida nicht nur gegen Amerika, sondern auch gegen die Monarchie in Saudi-arabien. Doch als das Sendungsbewusstsein der Neokonservativen der Kriegsmüdigkeit unter Obama, Trump und Biden wich, folgte die Enttäuschung. Washington erschütterte das Vertrauen der Us-verbündeten gleich mehrfach.
Trotz der Androhung von Militärschlägen zur Bestrafung von Chemiewaffen-einsätzen der syrischen Regierung gegen das eigene Volk blieb Obama gegen den syrischen Staatschef Baschar al-assad untätig. Zudem setzte sich Obama mit Iran – dem Todfeind Israels und arabischer Golf-staaten – an einen Tisch, als er mit Teheran ein Abkommen zur Begrenzung des iranischen Atomprogramms aushandelte: ein Vertrauensbruch, den viele Politiker in der Region den USA bis heute nicht verziehen haben. In den Rebellionen des Arabischen Frühlings schauten die USA tatenlos zu, als einer ihrer ältesten Partner, der ägyptische Staatschef Hosni Mubarak, von Demonstranten aus dem Amt gejagt wurde.
Selbst Gruppen wie die syrische Kurdenmiliz YPG, die als Fußtruppe der Amerikaner im Krieg gegen den IS mehr als 10 000 Kämpfer verlor, werden fallengelassen. Die Kurden bauten unter dem Schutz des Us-militärs im Nordosten Syriens eine Selbstverwaltung auf. Jetzt könnten sie das Erreichte verlieren, weil die meisten Us-soldaten abgezogen werden. Die benachbarte Türkei hat der YPG den Krieg erklärt.
Der Irak, von Bush zur Keimzelle der Demokratisierung des Nahen Ostens erklärt, entwickelte sich zu einem Schwarzen Loch des Terrors. Hunderttausende starben bei Anschlägen. Afghanistan, das zu einem modernen Staat mit westlichen Werten werden sollte, blieb im Dauerkrieg gegen die Taliban stecken. Als Biden den Rückzug der USA ankündigte, löste sich die vom Westen ausgebildete afghanische Armee in Luft auf. Amerikas eigene Truppen verließen fluchtartig das Land.
„Der Krieg in Afghanistan endet mit einer bitteren Demütigung“, bilanzierte Andrew Bacevich, Leiter der Denkfabrik Qunicy-institute. In Afghanistan sei mehr zu Ende gegangen als nur ein langer Krieg: die weltweite Vorherrschaft der USA.