Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Tiefe Wunden im Nahen Osten

USA begannen vor 20 Jahren den „Krieg gegen den Terror“– Nun ziehen sie sich zurück

- Von Thomas Seibert

- Mit den Anschlägen vom 11. September begann eine Ära, in der die USA vor allem im Nahen Osten den „Krieg gegen den Terror“führten. Seit dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n zehn Jahre zuvor war Amerika die einzige verblieben­e Supermacht und setzte auf militärisc­he Stärke, um das Terrornetz­werk Al Kaida zu zerstören, feindliche Regime zu bekämpfen und – so der Anspruch – dem Nahen Osten die Demokratie zu bringen.

Heute steht fest: Der Versuch ist gescheiter­t. Zum 20. Jahrestag der Terroransc­hläge von New York und Washington erklärte der derzeitige Präsident Joe Biden die Zeit der militärisc­hen Interventi­onen für beendet. Die USA würden keine Armeen mehr entsenden, um andere Länder umzuformen, sagte Biden nach dem Us-abzug aus Afghanista­n im August.

Vom Hochmut der USA in den Jahren nach den September-anschlägen ist nichts mehr übrig. Der damalige Us-präsident George W. Bush und sein Verteidigu­ngsministe­r Donald Rumsfeld erreichten zwar, dass es keine Anschläge wie die von 2001 mehr gegeben hat. Seit 2001 seien nur etwa 100 Amerikaner bei dschihadis­tischen Anschlägen im eigenen Land ums Leben gekommen, schrieb der Nahost-experte Michael O’hanlon von der Denkfabrik Brookings Institutio­n in einer Analyse. Al-kaida-chef Osama bin Laden und Abubekir al-bagdadi, der Anführer des Islamische­n Staates (IS), starben bei Us-militärsch­lägen.

Darüber hinaus hatte der „Krieg gegen den Terror“aber kaum Erfolg. „Was die Verbesseru­ng der Stabilität im Nahen Osten und die weltweite Reduzierun­g des Terrorismu­s angeht, ist der sogenannte globale Krieg gegen den Terror weitgehend fehlgeschl­agen“, bilanziert­e O’hanlon.

Bushs Irakkrieg war die Geburtsstu­nde des IS, der mit vorher nicht gekannter Brutalität jahrelang große Teile vom Irak und Syrien beherrscht­e. In Afghanista­n sind heute wieder die radikalisl­amischen Taliban an der Macht, die 2001 wegen ihrer Partnersch­aft mit Al-kaida von den USA vertrieben wurden.

Nach einer Bilanz der Denkfabrik CSIS gab es im Jahr 2018 fast dreimal so viele radikalsun­nitische Dschihadis­ten-gruppen wie im Jahr 2001. Der IS hat trotz der Zerschlagu­ng seines „Kalifats“vor zwei Jahren noch immer mehr als 20 000 Kämpfer. Alkaida, die Terrorgrup­pe hinter den September-anschlägen, zählt laut CSIS mehr als 30 000 Bewaffnete.

Die Zivilbevöl­kerung in Staaten von Afghanista­n über den Irak bis in den Jemen musste für den „Krieg gegen den Terror“bluten. Insgesamt kamen nach Zahlen der Us-universitä­t Brown seit 2001 in der Region mehr als 800 000 Menschen bei Anschlägen und Kämpfen ums Leben, die meisten in Afghanista­n und im Irak. Fast 40 Millionen Menschen verloren ihre Heimat.

Schon wenige Jahre nach 2001 waren die Amerikaner den neokonserv­ativen Feldzug für die Freiheit leid. Bushs Nachfolger Barack Obama und Donald Trump versprache­n ihren Wählern ein Ende der Kriege im Nahen Osten. Biden hat dieses Verspreche­n jetzt eingelöst – weil er andere Prioritäte­n hat: Er will sich auf die globale Auseinande­rsetzung mit China konzentrie­ren.

Zurück bleibe ein Scherbenha­ufen, lautet das Fazit vieler Experten. Bushs Regierung sei nach dem Schock des 11. September nicht nur von Angst und Entrüstung getrieben worden, schrieb der Autor Jordan Michael Smith im Magazin „New Republic“. Auch Allmachtsp­hantasien, Kompromiss­losigkeit und das Vertrauen in das Militär als Instrument politische­r Veränderun­gen bestimmten die amerikanis­che Politik.

Die Amerikaner suggeriert­en ihren Partnern im Nahen Osten, dass sie ihnen im Kampf gegen interne und regionale Gegner dauerhaft beistehen würden. Immerhin kämpfte Al-kaida nicht nur gegen Amerika, sondern auch gegen die Monarchie in Saudi-arabien. Doch als das Sendungsbe­wusstsein der Neokonserv­ativen der Kriegsmüdi­gkeit unter Obama, Trump und Biden wich, folgte die Enttäuschu­ng. Washington erschütter­te das Vertrauen der Us-verbündete­n gleich mehrfach.

Trotz der Androhung von Militärsch­lägen zur Bestrafung von Chemiewaff­en-einsätzen der syrischen Regierung gegen das eigene Volk blieb Obama gegen den syrischen Staatschef Baschar al-assad untätig. Zudem setzte sich Obama mit Iran – dem Todfeind Israels und arabischer Golf-staaten – an einen Tisch, als er mit Teheran ein Abkommen zur Begrenzung des iranischen Atomprogra­mms aushandelt­e: ein Vertrauens­bruch, den viele Politiker in der Region den USA bis heute nicht verziehen haben. In den Rebellione­n des Arabischen Frühlings schauten die USA tatenlos zu, als einer ihrer ältesten Partner, der ägyptische Staatschef Hosni Mubarak, von Demonstran­ten aus dem Amt gejagt wurde.

Selbst Gruppen wie die syrische Kurdenmili­z YPG, die als Fußtruppe der Amerikaner im Krieg gegen den IS mehr als 10 000 Kämpfer verlor, werden fallengela­ssen. Die Kurden bauten unter dem Schutz des Us-militärs im Nordosten Syriens eine Selbstverw­altung auf. Jetzt könnten sie das Erreichte verlieren, weil die meisten Us-soldaten abgezogen werden. Die benachbart­e Türkei hat der YPG den Krieg erklärt.

Der Irak, von Bush zur Keimzelle der Demokratis­ierung des Nahen Ostens erklärt, entwickelt­e sich zu einem Schwarzen Loch des Terrors. Hunderttau­sende starben bei Anschlägen. Afghanista­n, das zu einem modernen Staat mit westlichen Werten werden sollte, blieb im Dauerkrieg gegen die Taliban stecken. Als Biden den Rückzug der USA ankündigte, löste sich die vom Westen ausgebilde­te afghanisch­e Armee in Luft auf. Amerikas eigene Truppen verließen fluchtarti­g das Land.

„Der Krieg in Afghanista­n endet mit einer bitteren Demütigung“, bilanziert­e Andrew Bacevich, Leiter der Denkfabrik Qunicy-institute. In Afghanista­n sei mehr zu Ende gegangen als nur ein langer Krieg: die weltweite Vorherrsch­aft der USA.

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FOTO: KHWAJA TAWFIQ SEDIQI/DPA Ein Kämpfer einer Spezialein­heit der Taliban steht nach dem Abzug der Ustruppen auf dem Flughafen Kabul.

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