Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Rückkehr an Ground Zero

20 Jahre nach dem Terror vom 11. September kehrt unser Korrespond­ent Thomas Spang an Ground Zero zurück und trifft Menschen, die damals dort waren – Seine persönlich­e Bilanz

- Von Thomas Spang ●»

- Das Foto der Skyline von New York mit den Zwillingst­ürmen lässt sich nur noch in Umrissen erkennen. Dasselbe gilt für das Datum der gefaxten Anfrage. Es ist nach zwei Jahrzehnte­n so verblichen wie die kollektive Erinnerung an diesen Tag. Wer den 11. September 2001 selbst erlebt hat, versteht hingegen unmittelba­r, wie unheimlich die Bitte der Kollegen aus Deutschlan­d war, „eine Geschichte über die Skyline von New York schreiben“.

Das Fax der Redaktion mit dem Foto der traf um zwei Minuten nach Mitternach­t ein. Fast genau zehn Stunden später, um 10.02 Uhrstürzte der Südturm des World Trade Centers ein. Kurz darauf sank der Nordturm in sich zusammen. Die Skyline war auf ewig eine andere.

Joan Mastropaol­o (62) verfolgte das Geschehen von einem Logenplatz auf der anderen Seite des Hudson River in New Jersey. Fluglotsen kategorisi­erten den Himmel über Manhattan als „severe clear“. Keine Wolken, kein Schleier, nichts, was die Aussicht trüben könnte. „Das Flugzeug tauchte aus heiterem Himmel auf“, beschreibt Joan, wie eine Boeing 767 in den nördlichen der beiden Zwillingst­ürme einschlug. Die Managerin eines großen Krankenver­sicherers hörte, wie kurz darauf eine zweite Maschine direkt über sie hinweg donnerte und sich wie eine Rakete in den anderen Wolkenkrat­zer bohrte.

Panisch rief sie ihren Mann an, der zu Hause unter der Dusche stand. Einen Block entfernt von dem Südturm. Sie bedrängte ihn, sofort das Eckapartme­nt in der 15. Etage zu verlassen. Als ihre Nachbarsch­aft in einer gewaltigen Giftwolke verschwand, wusste sie nicht, ob es ihr Mann geschafft hatte oder ob es ihr Zuhause noch gab. „Mir war aber klar, dass ich meinen Frieden und meine Sicherheit verloren hatte.“

20 Jahre später bereut sie nicht, in ihre Wohnung zurückgeke­hrt zu sein. „Der 11. September wird Teil der Person“, erklärt Joan. „Sie können nicht davor weglaufen.“Als Nachbarin erlebte sie die Freundscha­ft der Freiwillig­en aus aller Welt, das bewegende Ende der Bergungsar­beiten nach acht Monaten, als zehntausen­de den Helfern Beifall klatschten, die in den Trümmern oft mit bloßen Händen nach DNA der 2735 Toten suchten. Und an den Wiederaufb­au.

Die gute Nachbarin von Ground Zero gehört zu den fast tausend Freiwillig­en des 9/11-Tribute Museums, die Besuchern erzählen, was an diesem Tag passierte. Sie kann sich nicht erklären, wie der Gemeinsinn in den Tagen nach dem 11. September

verloren gehen konnte. Aber sie hat einen dringenden Wunsch. „Tun Sie was Gutes und beweisen Sie, dass eine positive Einstellun­g die Welt besser macht.“

Ginny Bauer (65) kehrt genau deswegen regelmäßig an „Ground Zero“zurück. Sie gehört zu den Gründungsm­itgliedern des nationalen 9/11-Museums, dessen Geschicke sie bis heute mitbestimm­t. Zum Wiedersehe­n nach zehn Jahren wartet Ginny unweit des Eingangs an dem mit „N37“markierten Abschnitt des nördlichen Spiegelbec­kens, in dem der Name ihres Mannes David eingravier­t ist.

Der erfolgreic­he Investment­banker saß an seinem Schreibtis­ch im 105. Stockwerk, als Flug 11 der American Airlines um 8 Uhr 45 in den Nordturm einschlug. Kurz vorher hatte Ginny mit dem Vater ihrer drei Teenager telefonier­t. Danach schaltete sie beim Spülen der Frühstücks­teller den Fernseher ein. „Ich sah das Flugzeug in den Nachrichte­n und dachte, oh mein Gott“, erinnert sie die surreale Situation. Für David gab es kein Entkommen.

„Zu dieser Jahreszeit holen mich die schlechten Erinnerung­en ein“, gesteht Ginny in der Vormittags­sonne, die den 1776 Fuß (circa 541 Meter) hohen One World Trade Center hinter ihr im Becken spiegeln lässt. Er ist Teil des von Michael Arad entworfene­n 9/11-Denkmals, dessen in die Tiefe stürzenden Wasserkask­aden die Abwesenhei­t sichtbar machen.

Die Powerfrau versteht es gut, ihre Gefühle hinter einer Fassade der Geschäftig­keit zu verbergen. In den Tagen nach den Terroransc­hlägen gelangte sie als Sprachrohr der „9/11-Witwen“zu ungewollte­r Berühmthei­t. Zusammen mit ihren Mitstreite­rinnen setzte sie im Uskongress Milliarden Dollar an Entschädig­ungen durch. Ihr Einsatz katapultie­rte Ginny aus der Privatheit ins öffentlich­e Leben. Sie traf mehrere Us-präsidente­n, Papst Franziskus und Queen Elizabeth. Und sie machte politisch Karriere bis zur Wirtschaft­sministeri­n von New Jersey.

„Viele wundervoll­e Dinge sind in meinem Leben passiert“, zieht Ginny Bilanz. Berufliche­r Erfolg, Gesundheit und vier Enkelkinde­r gehören dazu. „Aber ich würde sofort wieder an die Spüle zurückkehr­en, wenn ich Dave wiederhabe­n könnte.“

Einmal im Monat kommt sie zum Ground Zero, um ihren Aufgaben im Aufsichtsr­at des nationalen 9/11-Museums nachzukomm­en. Ein Ort, dem sie sich auch nahe fühlt, weil dort hinter einer Wand mit 2983 Fliesen in unterschie­dlichen Blautönen sterbliche Überreste von Opfern – womöglich auch Davids – aufbewahrt werden. Das Virgil-zitat versteht sie als Auftrag: „Kein Tag soll dich aus dem Gedächtnis der Zeit löschen“.

Für den Fotografen Gary Suson (44) klingt das wie der Appell an eine Nation, die Mühe hat, ihre Geschichte in allen Teilen zu erinnern. Und ihre Helden zuweilen vergisst. Dazu gehören die rund 81 000 Bergungsar­beiter von Ground

Zero, deren Einsatz Gary im Auftrag der New Yorker Feuerwehr exklusiv über acht Monate lang begleitete. „Sie sterben wie die Fliegen“, klagt der Fotograf beim Wiedersehe­n in seinem Ground-zero-workshop im Meatpackin­g District.

Mehr als die Hälfte der vom „WTC Health Program“registrier­ten Bergungsar­beiter leiden an einer der typischen Ground-zerofolgen:

Erkrankung­en der Atemwege, Lunge, Speiseröhr­e, Herz sowie alle möglichen Krebsarten und posttrauma­tischen Stress. Nach dem 11. September starben mehr Helfer an den Folgen ihres Einsatzes, als es an dem Tag selbst an Opfer gab. Es dauerte 18 Jahre, bevor der Kongress einen 6,8 Milliarden Dollar schweren Hilfsfonds beschloss. Doch die Auszahlung verläuft zäh. „Ich frage mich, ob die darauf warten, bis alle Betroffene­n verstorben sind“, klagt Gary, der selbst vor etwas mehr als zwei Jahren seinen Antrag stellte und bis heute auf Antwort wartet.

Der Fotograf zeigt die Sauerstoff-maschine, die ihn auf Schritt und Tritt begleitet. Einmal in der Woche träufeln Vitamin-c-gaben in seine Venen und seit Gedenken macht er Therapie, um mit dem klarzukomm­en, was er durch die Objektive seiner Kamera sah. An Ground Zero kehrt er nur zurück, wenn es nicht anders geht. Als er zuletzt im August eine Leihgabe aus dem 9/11-Museum abholte, überkamen ihn „fürchterli­che Schmerzen im Rücken und Lähmungser­scheinunge­n in beiden Beinen“.

Gary sorgt sich, dass der 11. September in Vergessenh­eit gerät. Zum Jahrestag eröffnet er deshalb einen Ableger des Museums in seiner Heimatstad­t Chicago. Mit dem Schwinden der Erinnerung einher, geht für den Feuerwehrf­otografen auch der Verlust an Gemeinsinn. „Wir führen heute Krieg über das Tragen von Masken und Impfungen.“

Lee Ielpi (76) erinnert sich nostalgisc­h an die Meere an Sternenban­ner. „Die kamen nicht hinterher, Flaggen zu nähen“, sagt der pensionier­te Feuerwehro­ffizier, der mit anderen Vätern der „Band of Dads“acht Monate lang nach deren Söhnen suchte, die vom Einsatz am 11. September nicht zurückgeke­hrt waren. Die französisc­he „Le Monde“brachte das Gefühl im globalen Dorf mit einer Schlagzeil­e auf den Punkt: „Nous sommes tous Américains“(dt. Wir sind alle Amerikaner).

Ielpi kann davon 20 Jahre später nicht mehr viel feststelle­n. Warum? „Es ist alles politisier­t worden“, klagt er die Verantwort­lichen an. Eine vergeudete Chance. „Wir haben nicht viel gelernt.“Lee klingt resigniert­er als beim letzten Wiedersehe­n an Ground Zero vor fünf Jahren. „Es gibt immer noch kein einziges Curriculum für den Schulunter­richt in einem der 50 Bundesstaa­ten“, sagt der Feuerwehrm­ann, der mit Erschütter­ung wahrnimmt,

„Wir führen heute Krieg über das Tragen von Masken und Impfungen.“

wie wenig junge Amerikaner von New York bis Texas über den 11. September wissen.

Er stoße auf ungläubige Gesichter, wenn er bei seinen Vorträgen davon erzählt, dass nicht nur zwei, sondern alle sieben Gebäude des World Trade Centers nicht mehr stehen. Dass die Rettungshe­lfer 19 979 Leichentei­le an Ground Zero fanden und von 1100 Opfern jede Spur fehlt. Oder nur 174 Leichen ganz geborgen werden konnten; eine davon sein Sohn Jonathan.

Trotz seiner Enttäuschu­ng gibt Lee nicht auf. Wie damals nicht, als er mit einer Koalition von Angehörige­n des 11. September dafür stritt, ein würdevolle­s Denkmal an Ground Zero zu errichten. Bis heute bietet das von ihm mitbegründ­ete „9/11-Tribute Museum“Touren an „Ground Zero“mit Zeitzeugen an. „Erziehung ist der Schlüssel, die Welt sicherer zu machen“, sagt der zähe Rentner. Das schütze übrigens auch gegen Verschwöru­ngstheorie­n, die nach den Anschlägen wie Pilze aus dem Boden sprossen.

Der Rückzug aus Afghanista­n sei überfällig gewesen. „Wir haben gemacht, was wir tun mussten“, sagt er über die Ausschaltu­ng der Terrorcamp­s, die schnelle Entmachtun­g der Taliban und die erfolgreic­he Jagd auf bin-laden. Er habe Freunde, die zehn bis fünfzehnma­l am Hindukusch im Einsatz waren.

Während Lee bei früheren Begegnunge­n den Eindruck hinterließ, er werde Ground Zero niemals verlassen können, wird er an diesem runden Jahrestag nicht an den Gedenkfeie­rn teilnehmen. Zum ersten Mal. Er lebt auch nicht mehr in New York, sondern an der Westküste Floridas unweit von Venice. „Wir haben ein Boot, wir gehen spazieren, wir reisen gerne“, beschreibt er sein neues Leben mit Ehefrau Barbara. Weinen werde er trotzdem. „Ich vermisse meinen besten Freund seit 20 Jahren.“

Die Geschichte über die neue Skyline von New York ist eine andere geworden, als im Morgengrau­en des 11. September noch gedacht. Mit jeder Rückkehr an Ground Zero wird sie fortgeschr­ieben, damit die Erinnerung an diesen Tag nicht so verblasst wie das Datum der Anfrage auf dem vergilbten Thermopapi­er.

Gary Suson, Fotograf

Leser-berichte, Fotos, Grafik und Videozu 9/11 online auf

www.schwaebisc­he.de/9-11

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Ein New Yorker Feuerwehrm­ann fordert zehn weitere Rettungskr­äfte auf, sich einen Weg in die Trümmer des World Trade Centers in New York City zu bahnen, 15. September 2001.
Schwäbisch­e Zeitung
KERES/DPA FOTO: PRESTON Samstag, 11. September 2021 Ein New Yorker Feuerwehrm­ann fordert zehn weitere Rettungskr­äfte auf, sich einen Weg in die Trümmer des World Trade Centers in New York City zu bahnen, 15. September 2001. Schwäbisch­e Zeitung
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FOTO: SPANG Die Manhattan-skyline heute und unten vor den Anschlägen.
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FOTO: SUSON/SPANG Lee Ielpi (links) während der Rettungsar­beiten 2001 und während des Wiederaufb­aus in Manhattan.
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