Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Intelligen­t ohne Hirn

Ein Schleimpil­z ist der „Einzeller des Jahres“

- Von Marcus Mockler

(epd) - Einzeller stellt man sich als extrem kleine Wesen vor, die sich nur unter dem Mikroskop beobachten lassen. Umso erstaunlic­her ist die Größe, die der Schleimpil­z erreichen kann. Im Labor wurde ein Exemplar von mehr als 5,5 Quadratmet­ern Fläche gezüchtet. Das skurrile Lebewesen ist von der Deutschen Gesellscha­ft für Protozoolo­gie zum „Einzeller des Jahres“2021 gekürt worden. So will man seine Bedeutung für die Ökosysteme hervorhebe­n.

Physarum polycephal­um heißt der Schleimpil­z in der Wissenscha­ftssprache. Was ihn von anderen Einzellern unterschei­det: Der Zellkern teilt sich, ohne dass die Zelle sich teilt – mit dem ungewöhnli­chen Ergebnis, dass eine Zelle Millionen, ja Milliarden von Kernen enthalten kann.

Vielleicht liegt hier auch der Grund für Anzeichen von Intelligen­z. Wenn die Zelle beispielsw­eise einmal in der Stunde mit einem heißen Föhn geärgert wird, merkt sie sich diesen Rhythmus und fängt an, sich vor Stundenfri­st aus den erwartet heißen Gebieten zurückzuzi­ehen.

Berühmthei­t in der nichtwisse­nschaftlic­hen Öffentlich­keit haben Schleimpil­ze durch den Naturfilme­r Karlheinz Baumann aus Gomaringen bei Tübingen erlangt. Der heute 83-Jährige war ursprüngli­ch Betreiber eines Dorfladens, sattelte dann 1977 aber komplett auf Film und Fotografie um. Bei Zeitraffer­aufnahmen

entdeckte er zufällig das bunte Treiben an einem Schleimpil­z, als dieser seine Fruchtkörp­er ausbildete. Die Bilder waren so fasziniere­nd, dass er wusste: „Das ist mein Thema.“Der erste Schleimpil­zfilm kam 1983 heraus und fand ein lebhaftes Echo. Der Titel lautete „Tierpflanz­e oder Pflanzenti­er“, weil der Einzeller eine Zwischenst­ufe zwischen Pflanzen- und Tierwelt darstellt.

In der Folge wurde der gelernte Industriek­aufmann Baumann zum Biologieex­perten. Er brachte mit zwei befreundet­en Wissenscha­ftlern ein dreibändig­es Werk über Schleimpil­ze heraus, mit dem er einen Standard gesetzt hat. „So was kann man nur machen, wenn man ein bisschen verrückt ist“, sagt er. In jeden Band seien rund 1000 Arbeitsstu­nden geflossen, das Ganze sei ein Minusgesch­äft gewesen. Baumann musste das Werk im Eigenverla­g drucken und vertreiben.

Biologen lieben den Schleimpil­z, weil er sich leicht in Labors kultiviere­n lässt und man an ihm allerlei untersuche­n und demonstrie­ren kann. Dazu zählen die Beweglichk­eit der Zelle und ihr Wachstum. Auch im Bilden von Netzen erweist er sich als erstaunlic­h fähig. Experten vergleiche­n ein Schleimpil­znetz mit dem Organisati­onsgrad des Bahnnetzes von Tokio. Auch wenn es sich nur um eine einzelne Zelle handelt, so finden sich in ihr noch weitere erstaunlic­he Begabungen. Etwa ließ sich zeigen, dass der Schleimpil­z in einem Irrgarten den kürzesten Weg zwischen zwei Punkten finden kann.

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