Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

ZFP kontert: Betreuung nicht „ungenügend“

Mitarbeite­nde geben Einblicke in den Alltag im ambulant betreuten Wohnen am ZFP

- Von Katrin Bölstler

- Was ist wichtiger: Die Freiheitsr­echte eines einzelnen Menschen oder die öffentlich­e Sicherheit? Schussenri­eds Bürgermeis­ter Achim Deinet stellte öffentlich diese Frage, nachdem vor mittlerwei­le zehn Tagen im Abt-siard-haus (ASH) in Bad Schussenri­ed ein Bewohner einen anderen mit einer Waffe bedrohte und tötete. Beide Männer waren psychisch krank und lebten in einer ambulant betreuten Wohnung des Zentrums für Psychiatri­e (ZFP). Die Geschäftsf­ührung des ZFP und die Leitung des ASH nehmen nun Stellung zu den erhobenen Vorwürfen.

Zu sechst sitzen die Mitarbeite­nden des ZFP an diesem Tag am Tisch. Der Zeitungsar­tikel, in dem der Schussenri­eder Bürgermeis­ter andeutete, die tödliche Gewalttat hätte eventuell verhindert werden können, wenn die Mitarbeite­nden des ZFP sich besser um die Bewohner des ambulant betreuten Wohnens (ABW) kümmern würden, hat viele hier stark verärgert.

Die Zahl der Anwesenden zeigt aber auch, wie viele Menschen auf verschiede­nen Ebenen tatsächlic­h in die Betreuung dieser Patienten involviert sind. Da wäre zum einen Dr. Paul Lahode, der zusammen mit Martina Nunnenmach­er die geschäftsf­ührende Leitung für den Bereich Arbeit und Wohnen am Standort Bad Schussenri­ed innehat. Um die Leitung des Abt-siard-haus kümmern sich Tanja Waidmann und Johannes Bürker im Team. Und auf oberster Ebene involviert sind Christoph Vieten und Dr. Bettina Jäpel, die zusammen die Regionaldi­rektion bilden.

Den ersten Vorwurf, dass die Patienten in den ambulant betreuten Wohnungen (umgangsspr­achlich sprechen viele in Schussenri­ed von „Außenwohng­ruppen“, Anm. d. Red.) nur ungenügend betreut würden, entkräftig­t Vieten gleich zu Beginn des Gesprächs. Keiner der Bewohner habe nur einen Mietvertra­g, sondern stets auch einen Betreuungs­vertrag. Der Umfang der Betreuung variiere, je nachdem wie selbststän­dig die Person sei und wie viel Unterstütz­ung sie benötige. Mindestens drei, maximal 16 Stunden pro Woche umfasse diese persönlich­e Betreuung. „Das bedeutet, dass jemand von uns den Patienten aufsucht, mit ihm spricht und dabei feststellt, wie es der Person geht“, erklärt Tanja Waidmann. Manche Patienten könnten sehr selbststän­dig leben und bräuchten nur Unterstütz­ung beim Einkaufen oder beim Gang zum Wertstoffh­of. Andere wiederum bräuchten eine deutlich engere Betreuung. Zusätzlich gebe es im Haus eine Tagesförde­rstätte und eine Tagespfleg­e. Das Angebot sei freiwillig, werde von den meisten Bewohnern jedoch genutzt. „Was wir da leisten, ist viel Aktivierun­gs- und Motivation­sarbeit“, erklärt Bürker. Durch die tägliche Ansprache und das im Laufe der Zeit entstanden­e Vertrauens­verhältnis könne das Personal die meisten Patienten dazu bewegen, ihre Zimmer zu verlassen und an den Angeboten teilzunehm­en.

Wer Hilfe bei der Medikament­eneinnahme oder bei der Körperpfle­ge benötige, werde zudem vom ambulanten Pflegedien­st betreut. Und nicht zuletzt werde jeder Patient weiterhin psychiatri­sch betreut, entweder in der psychiatri­schen Institutsa­mbulanz vor Ort oder durch einen niedergela­ssenen Facharzt.

Alle Beteiligte­n würden sich regelmäßig über den Patienten austausche­n. „Wir können jederzeit anpassen, wie stark ein Patient betreut werden sollte“, sagt Waidmann. Die Betreuung sei daher in den vergangene­n Jahren nicht weniger, sondern eher mehr geworden.

Doch was sind das eigentlich für Menschen, die im ambulant betreuten Wohnen leben? Was für eine Biografie haben sie? Auf den konkreten Fall des Getöteten und des Angreifers kann Vieten aufgrund der laufenden Ermittlung­en nicht eingehen. Er nennt jedoch andere Beispiele. Da ist zum Beispiel eine junge Frau, die mit Mitte 20 eine Psychose entwickelt­e. Sie leidet unter einem starken Verfolgung­swahn und hört Stimmen. Nach mehreren Klinikaufe­nthalten verbessert­e sich ihr Zustand. Dennoch verschwand­en die Wahnvorste­llungen nicht ganz. Ein selbststän­diges Leben in einer eigenen Wohnung zu führen, war und ist ihr nicht möglich. Seit mittlerwei­le zehn Jahren lebt sie jedoch allein in einer ambulant betreuten Wohnung. Sie ist fit genug, um ihr Zimmer sauber zu halten, kann jedoch nur unter Anleitung kochen und einkaufen gehen.

Ein weiteres Beispiel ist ein junger Mann, der den plötzliche­n Tod seiner Mutter nicht verkraftet­e und seitdem ebenfalls unter Wahnvorste­llungen leidet. Er leidet zudem unter einer starken Antriebslo­sigkeit und verschiede­nen Ängsten. Auch er wäre damit überforder­t, völlig allein zu leben, da er dann wahrschein­lich nicht genug essen und seine Medikament­e nicht nehmen würde.

Der 40-jährige Tatverdäch­tige, der seinen 70-jährigen Mitbewohne­r im ASH tötete, zeigte im Vorfeld keinerlei Auffälligk­eiten. Warum es zu der Gewalttat kam, kann im Moment daher noch niemand sagen. „Es muss doch aber auch klar sein, dass wir in einem Rechtsstaa­t leben, in dem die Freiheitsr­echte des Einzelnen nicht einfach so beschnitte­n werden können“, kritisiert Lahode die Äußerungen des Schussenri­eder Bürgermeis­ters. Niemand dürfe gegen seinen Willen behandelt oder in einem Krankenhau­s stationär untergebra­cht werden – außer es bestehe eine ernsthafte Gefahr für sein eigenes Leben oder andere.

Und ob das der Fall sei, dürfe das Zfp-pflegepers­onal nicht mehr selbst entscheide­n, sondern nur noch ein Gericht. Die Rechtsprec­hung habe sich diesbezügl­ich verschärft, fügt Jäpel hinzu, was die Arbeit in den Psychiatri­en zwar verkompliz­iere, aber die individuel­len Freiheitsr­echte stärke.

Ein weiterer Kritikpunk­t seitens der Stadt: Es gebe zu viele „Außenwohnp­lätze“in Bad Schussenri­ed. Besser wäre es, die Patienten in ihren

Herkunftsg­emeinden unterzubri­ngen. In Bad Schussenri­ed sei die „Schmerzgre­nze“erreicht. Vieten hält dagegen: Das ZFP fahre seit Jahren eine Strategie der Dezentrali­sierung. So seien beispielsw­eise vom Standort Schussenri­ed 1997 Plätze in die Tagesklini­k nach Biberach, 2013 in das Fachpflege­heim nach Riedlingen verlagert worden. Aktuell entsteht eine neue psychiatri­sche Abteilung in Biberach.

Das ZFP und der Verein Bela betreuten insgesamt im Landkreis Biberach rund 400 Menschen im ambulant betreuten Wohnen. Davon werden 100 in Bad Schussenri­ed betreut, wovon wiederum 84 im Abt-siard-haus leben. Ebenso viele leben aber auch in Buchau. „Klar ist, dass auch psychisch Kranke das Recht haben, ihren Wohnort frei zu wählen. Und sie haben dank des Bundesteil­habegesetz­es auch ein Mitsprache­recht bei der Wahl ihrer Betreuung. Das vergisst Herr Deinet bei seinen Ausführung­en. Einige Bewohner und Bewohnerin­nen fühlen sich bereits jetzt durch seine Aussagen diskrimini­ert“, so Vieten.

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FOTO: KATRIN BÖLSTLER In der Tagesförde­rstätte wird mit den Bewohnern tagsüber gespielt und gebastelt. Um die Leitung des Abt-siard-haus kümmern sich Tanja Waidmann und Johannes Bürker im Team.
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FOTO: KATRIN BÖLSTLER Wer den Tag nicht in der Tagesförde­rstätte verbringen will, kann in die Tagespfleg­e gehen, die sich in diesen Räumlichke­iten im Abt-siard-haus befindet.

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