Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
ZFP kontert: Betreuung nicht „ungenügend“
Mitarbeitende geben Einblicke in den Alltag im ambulant betreuten Wohnen am ZFP
- Was ist wichtiger: Die Freiheitsrechte eines einzelnen Menschen oder die öffentliche Sicherheit? Schussenrieds Bürgermeister Achim Deinet stellte öffentlich diese Frage, nachdem vor mittlerweile zehn Tagen im Abt-siard-haus (ASH) in Bad Schussenried ein Bewohner einen anderen mit einer Waffe bedrohte und tötete. Beide Männer waren psychisch krank und lebten in einer ambulant betreuten Wohnung des Zentrums für Psychiatrie (ZFP). Die Geschäftsführung des ZFP und die Leitung des ASH nehmen nun Stellung zu den erhobenen Vorwürfen.
Zu sechst sitzen die Mitarbeitenden des ZFP an diesem Tag am Tisch. Der Zeitungsartikel, in dem der Schussenrieder Bürgermeister andeutete, die tödliche Gewalttat hätte eventuell verhindert werden können, wenn die Mitarbeitenden des ZFP sich besser um die Bewohner des ambulant betreuten Wohnens (ABW) kümmern würden, hat viele hier stark verärgert.
Die Zahl der Anwesenden zeigt aber auch, wie viele Menschen auf verschiedenen Ebenen tatsächlich in die Betreuung dieser Patienten involviert sind. Da wäre zum einen Dr. Paul Lahode, der zusammen mit Martina Nunnenmacher die geschäftsführende Leitung für den Bereich Arbeit und Wohnen am Standort Bad Schussenried innehat. Um die Leitung des Abt-siard-haus kümmern sich Tanja Waidmann und Johannes Bürker im Team. Und auf oberster Ebene involviert sind Christoph Vieten und Dr. Bettina Jäpel, die zusammen die Regionaldirektion bilden.
Den ersten Vorwurf, dass die Patienten in den ambulant betreuten Wohnungen (umgangssprachlich sprechen viele in Schussenried von „Außenwohngruppen“, Anm. d. Red.) nur ungenügend betreut würden, entkräftigt Vieten gleich zu Beginn des Gesprächs. Keiner der Bewohner habe nur einen Mietvertrag, sondern stets auch einen Betreuungsvertrag. Der Umfang der Betreuung variiere, je nachdem wie selbstständig die Person sei und wie viel Unterstützung sie benötige. Mindestens drei, maximal 16 Stunden pro Woche umfasse diese persönliche Betreuung. „Das bedeutet, dass jemand von uns den Patienten aufsucht, mit ihm spricht und dabei feststellt, wie es der Person geht“, erklärt Tanja Waidmann. Manche Patienten könnten sehr selbstständig leben und bräuchten nur Unterstützung beim Einkaufen oder beim Gang zum Wertstoffhof. Andere wiederum bräuchten eine deutlich engere Betreuung. Zusätzlich gebe es im Haus eine Tagesförderstätte und eine Tagespflege. Das Angebot sei freiwillig, werde von den meisten Bewohnern jedoch genutzt. „Was wir da leisten, ist viel Aktivierungs- und Motivationsarbeit“, erklärt Bürker. Durch die tägliche Ansprache und das im Laufe der Zeit entstandene Vertrauensverhältnis könne das Personal die meisten Patienten dazu bewegen, ihre Zimmer zu verlassen und an den Angeboten teilzunehmen.
Wer Hilfe bei der Medikamenteneinnahme oder bei der Körperpflege benötige, werde zudem vom ambulanten Pflegedienst betreut. Und nicht zuletzt werde jeder Patient weiterhin psychiatrisch betreut, entweder in der psychiatrischen Institutsambulanz vor Ort oder durch einen niedergelassenen Facharzt.
Alle Beteiligten würden sich regelmäßig über den Patienten austauschen. „Wir können jederzeit anpassen, wie stark ein Patient betreut werden sollte“, sagt Waidmann. Die Betreuung sei daher in den vergangenen Jahren nicht weniger, sondern eher mehr geworden.
Doch was sind das eigentlich für Menschen, die im ambulant betreuten Wohnen leben? Was für eine Biografie haben sie? Auf den konkreten Fall des Getöteten und des Angreifers kann Vieten aufgrund der laufenden Ermittlungen nicht eingehen. Er nennt jedoch andere Beispiele. Da ist zum Beispiel eine junge Frau, die mit Mitte 20 eine Psychose entwickelte. Sie leidet unter einem starken Verfolgungswahn und hört Stimmen. Nach mehreren Klinikaufenthalten verbesserte sich ihr Zustand. Dennoch verschwanden die Wahnvorstellungen nicht ganz. Ein selbstständiges Leben in einer eigenen Wohnung zu führen, war und ist ihr nicht möglich. Seit mittlerweile zehn Jahren lebt sie jedoch allein in einer ambulant betreuten Wohnung. Sie ist fit genug, um ihr Zimmer sauber zu halten, kann jedoch nur unter Anleitung kochen und einkaufen gehen.
Ein weiteres Beispiel ist ein junger Mann, der den plötzlichen Tod seiner Mutter nicht verkraftete und seitdem ebenfalls unter Wahnvorstellungen leidet. Er leidet zudem unter einer starken Antriebslosigkeit und verschiedenen Ängsten. Auch er wäre damit überfordert, völlig allein zu leben, da er dann wahrscheinlich nicht genug essen und seine Medikamente nicht nehmen würde.
Der 40-jährige Tatverdächtige, der seinen 70-jährigen Mitbewohner im ASH tötete, zeigte im Vorfeld keinerlei Auffälligkeiten. Warum es zu der Gewalttat kam, kann im Moment daher noch niemand sagen. „Es muss doch aber auch klar sein, dass wir in einem Rechtsstaat leben, in dem die Freiheitsrechte des Einzelnen nicht einfach so beschnitten werden können“, kritisiert Lahode die Äußerungen des Schussenrieder Bürgermeisters. Niemand dürfe gegen seinen Willen behandelt oder in einem Krankenhaus stationär untergebracht werden – außer es bestehe eine ernsthafte Gefahr für sein eigenes Leben oder andere.
Und ob das der Fall sei, dürfe das Zfp-pflegepersonal nicht mehr selbst entscheiden, sondern nur noch ein Gericht. Die Rechtsprechung habe sich diesbezüglich verschärft, fügt Jäpel hinzu, was die Arbeit in den Psychiatrien zwar verkompliziere, aber die individuellen Freiheitsrechte stärke.
Ein weiterer Kritikpunkt seitens der Stadt: Es gebe zu viele „Außenwohnplätze“in Bad Schussenried. Besser wäre es, die Patienten in ihren
Herkunftsgemeinden unterzubringen. In Bad Schussenried sei die „Schmerzgrenze“erreicht. Vieten hält dagegen: Das ZFP fahre seit Jahren eine Strategie der Dezentralisierung. So seien beispielsweise vom Standort Schussenried 1997 Plätze in die Tagesklinik nach Biberach, 2013 in das Fachpflegeheim nach Riedlingen verlagert worden. Aktuell entsteht eine neue psychiatrische Abteilung in Biberach.
Das ZFP und der Verein Bela betreuten insgesamt im Landkreis Biberach rund 400 Menschen im ambulant betreuten Wohnen. Davon werden 100 in Bad Schussenried betreut, wovon wiederum 84 im Abt-siard-haus leben. Ebenso viele leben aber auch in Buchau. „Klar ist, dass auch psychisch Kranke das Recht haben, ihren Wohnort frei zu wählen. Und sie haben dank des Bundesteilhabegesetzes auch ein Mitspracherecht bei der Wahl ihrer Betreuung. Das vergisst Herr Deinet bei seinen Ausführungen. Einige Bewohner und Bewohnerinnen fühlen sich bereits jetzt durch seine Aussagen diskriminiert“, so Vieten.