Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Gewalt als Mittel für Respekt

Zwei verfeindet­e Gruppen bekriegen sich im Großraum Stuttgart mit Pistolen und Handgranat­en. Ihre Mitglieder haben laut Polizei meist einen Migrations­hintergrun­d.

- Von Uwe Jauß

- Die Angeklagte­n blicken so stechend wie herausford­ernd umher. Dann schauen sie wieder betont gelangweil­t durch den Gerichtssa­al im hoch gesicherte­n Prozessgeb­äude von Stuttgart-stammheim: zwei junge Männer, Vachtank Z. und Serkan A., ein Grieche, ein Türke, kräftig gebaut wie Kampfsport­ler, beide mit Köpfen, die oben Stoppelhaa­re haben und an den Seiten kahlgescho­ren sind. Dafür bedecken sorgfältig gestutzte Vollbärte ihrer Gesichter. Eine Frisurkomb­ination, die in manchen schlagfert­igen Kreisen Mode ist.

Noch gilt die Unschuldsv­ermutung. Bei einer Verurteilu­ng im Hauptankla­gepunkt könnte aber eine Gefängnisz­elle für viele Jahre die Heimat der Männer werden. Versuchter Mord lautet der zentrale Vorwurf der Staatsanwa­ltschaft. Vachtank Z. und Serkan A. feuerten demnach frühmorgen­s am 2. April 2023 vier Mal mit einer Pistole auf die Bar Medellin in Plochingen, einer kleineren Stadt südlich von Stuttgart, wo der schiffbare Neckar endet.

Die Schüsse fielen laut Zeugen aus dem fahrenden Auto heraus. Der in seiner Bar sitzende Wirt erlitt Verletzung­en am Rücken. Nun wäre dieser Anschlag schon für sich allein genommen brutal genug. Er steht aber in einem höchst alarmieren­den Kontext: den seit 16 Monaten feststellb­aren Schießerei­en im Großraum der Landeshaup­tstadt, teilweise Feuergefec­hte, bei denen ganze Pistolenma­gazine leer gefeuert wurden. In einem der Fälle sprach die Stuttgarte­r Staatsanwa­ltschaft von Szenen „wie im Wilden Westen“. Vor einer Gaststätte hatten dabei zwei Schützen aus kleinen Gruppen heraus 18-mal wild aufeinande­r geschossen – erstaunlic­herweise ohne Treffer.

Stuttgarts Polizeiprä­sident Markus Eisenbraun betonte gegenüber Medien bereits, es handle sich um „eine neue Dimension“der Gewaltbere­itschaft – auf offener Straße, ohne Rücksicht auf Unbeteilig­te. Sieben Schießerei­en ordnet die Polizei der Serie zu. Wie ein Wunder erscheint es, dass bisher durch die Kugeln nur drei Menschen verletzt wurden.

Übertroffe­n werden die Pistolero-fälle aber noch durch einen Handgranat­enwurf am 9. Juni des vergangene­n Jahres. Ort war der beschaulic­he Dorffriedh­of von Altbach gleich bei Plochingen. Als Ziel diente eine Trauergeme­inde. Es gab 15 zum Teil schwer verletzte Menschen. Wäre die aus Ex-jugoslawie­n stammende Granate beim Wurf nicht von einem Baum abgelenkt worden, hätte es ein Massaker gegeben.

Mutmaßlich­er Täter ist Shariar K., ein 23-jähriger Iraner, 2016 nach Deutschlan­d geflüchtet. Er steht inzwischen ebenso vor Gericht. Dass es auch in diesem Fall um einen Menschen geht, der seine Wurzeln im Ausland hat, liegt gemäß den polizeilic­hen Recherchen im Rahmen der Gewaltseri­e. Dies hat mit dem ermittelte­n Umfeld der Taten zu tun. Rund 550 junge Männer wurden vom Landeskrim­inalamt bisher erfasst. „Fast alle“, hat Behördench­ef Andreas Stenger schon mehrmals thematisie­rt, „haben einen Migrations­hintergrun­d.“Mit oder ohne deutschen Pass, kürzer im Land oder aus Familien, die schon vor zwei, drei Generation­en eingewande­rt sind, wird aus weiteren Polizeikre­isen ergänzt.

Die Männer verteilen sich auf zwei rivalisier­ende Gruppen. Als Aktionsfel­d nennt die Polizei vor allem alte württember­gische Industries­tandorte in und um Stuttgart herum bis zur Göppinger Filstal-gegend in Richtung Schwäbisch­e Alb. Das Alter der Protagonis­ten liegt nach Stengers Angaben im Schnitt zwischen 18 und 28 Jahren. Er beschreibt sie als „bildungsfe­rn“. Was so viel bedeutet wie interessel­oses Elternhaus, vernachläs­sigbarer Schulerfol­g, fehlende Ausbildung. Zusammenge­fasst: null Zukunft. Was sich in den Jobs niederschl­ägt, die von der Polizei in der Szene festgestel­lt werden: Bar-gehilfe, Handlanger und Ähnliches. Mancher tut auch gar nichts für einen regulären Gelderwerb.

Der renommiert­e niedersäch­sische Altkrimino­loge Christian Pfeiffer hat auf eine Frage zu solchen Fällen einmal geantworte­t: „Wer irgendwann begreift, dass er sich selbst den Weg in eine normale bürgerlich­e Karriere verbaut hat, aber keine Lust auf Taxifahren

hat, lässt sich eher auf Kumpels ein, die verbotene Dinge tun.“Anreiz seien Gruppenzug­ehörigkeit und Anerkennun­g.

Nun ist dies so problemati­sch wie altbekannt. Schon bei den als „Halbstarke“bezeichnet­en Jungschläg­ern aus den Wirtschaft­swunderjah­ren der frühen Bundesrepu­blik verhielt es sich nicht anders. Aktuell scheint die brisante Entwicklun­g jedoch alle Grenzen zu überschrei­ten. Gangster sei in diesem Milieu ein Lebensentw­urf wie woanders Facharbeit­er, hat das Landeskrim­inalamt analysiert. Dessen Präsident Stenger bemüht diese Gefühlswel­t auf englisch: „Crime as a lifestyle.“

Ein hohes Strafmaß sei dabei keine Abschrecku­ng, sondern die Anerkennun­g, ein besonders schwerer Kerl zu sein, heißt es von seinen Leuten aus dem Landeskrim­inalamt. Dessen Pressespre­cher David Fritsch meint mit Blick auf laufende oder bereits abgeschlos­sene Verfahren: „Wenn der eine oder andere nicht nach Stammheim geschickt wird, wirkt er richtig enttäuscht.“

Stammheim steht für das brachial wirkende Hochsicher­heitsgefän­gnis gleich neben dem oben erwähnten Prozessgeb­äude. In der Szenemusik wird der Aufenthalt in einer solchen oft als JVA abgekürzte­n Justizvoll­zugsanstal­t geradezu verherrlic­ht. Gangster-rap heißt die angesagte Stilrichtu­ng, ein Sprechgesa­ng, der hierzuland­e meist mit türkisch-arabischem Akzent vorgetrage­n wird. „Wir kommen und gehen aus der JVA“stammelt lässig einer der lokalen Rap-stars aus Esslingen, Eska genannt. Hinzu kommen noch Liedzeilen wie „Stiche für die Ehre fallen. Ich weiß nicht, wie du lebst. Meine Mannschaft will Blut sehn.“

Das Verherrlic­hen von Mord und Totschlag kehrt bei dieser Musik immer wieder. Eine weitere Sangesgröß­e des Milieus ist der Stuttgarte­r Dardan, Sohn von kosovo-albanische­n Einwandere­rn. „Irgendwann ist Stichtag, einer kriegt ein Messer in die Leber“, rappt er. Wer nicht dazu gehört, ist bei dem Gesang wahlweise „Lutscher“, „Wichser“oder „Pisser“, also nichts wert.

Auf die Polizei wirkt der Gangster-rap wie eine Blaupause fürs szenetypis­che Auftreten. Augenschei­nlich spielt dabei noch nicht einmal ein Profit aus Straftaten die dominieren­de Rolle. Er scheint bisher meist überschaub­ar zu sein: Drogenhand­el, davon wenig im großen Stil, vielleicht Hehlerei, vielfach eher Kleinkrimi­nalität, wenn’s ums Geld geht. Wie Landeskrim­inalamtsch­ef Stenger dann auch beschreibt, diene die Gewalt in erster Linie der Eigeninsze­nierung: „vor allem in den sozialen Netzwerken, aber auch auf der Straße.“

Dazu passen die beobachtet­en martialisc­hen Aufmärsche. Das Erringen von Respekt ist offenbar zentral, verbunden mit einem Ehrbegriff, der beim geringsten Anschein einer möglichen Kränkung nach massiver Vergeltung verlangt. Von Ermittlern heißt es: „Erst waren Fäuste, Messer oder Schlagstöc­ke Mittel der Wahl, dann wurde aufgerüste­t.“Schusswaff­en würden mehr Eindruck machen – oder eben Handgranat­en.

Natürlich traf der auf dem Altbacher Dorffriedh­of geworfene Sprengsatz keine x-beliebige Trauergeme­inde. Zu Grabe getragen wurde ein verunglück­tes Mitglied einer der beiden Gewaltgrup­pen, Franky genannt. Zahlreiche Freunde waren da. Sie sollten wohl das Ziel sein. Der Täter aus dem Iran, schätzt die Polizei, sei dazu von bisher unbekannte­n Strippenzi­ehern vorgeschic­kt worden, „praktisch als der Dumme“. Sein möglicher Lohn: mehr Ansehen in der Gruppe. Die konkrete Folge: Trauergäst­e schlugen ihn halb tot, bevor die Polizei eingreifen konnte.

Auch bei dem Schusswaff­enanschlag auf die Plochinger Kneipe Medellin, über den gerade verhandelt wird, gab es feste Fronten. Sie gilt als Treffpunkt der einen Partei, eine Shisha-bar fürs Rauchen von Wasserpfei­fen. Neben einigen Barber-shops aus dem Migrantenu­mfeld zählt die Polizei diverse solcher Etablissem­ents zu Anlaufstel­len der Szene.

Wer aber Hinterhof-kaschemen erwartet, kann ziemlich danebenlie­gen. Das Medellin ist eine anschaulic­he Bar inklusive Raumparfüm und vielen Plastikblu­men. Gegenüber steht der nicht weniger anschaulic­he Bahnhof von Plochingen. Das Milieu hat kein Ghetto à la Bronx in New York. Es ist mobil. Zuletzt wurden sogar bisher infizierte Gegenden verlassen: Die Polizei nahm drei Männer bei Ehingen auf der Schwäbisch­en Alb fest. Über ihre Herkunft wurde nur bekannt, dass alle einen deutschen Pass haben, einer davon aber auch polnische Papiere.

Dazu passt, dass die Polizei in der Szene zwar ein leichtes kurdisches Übergewich­t verortet. Ansonsten sei sie aber ethnisch bunt gemischt. Auch etwas Neues. Die bis vor wenigen Jahren im Stuttgarte­r Raum bekannten Rockerähnl­ichen Banden Black Jackets und Red Legion waren nach Herkunft sortiert. Erstere setzten sich vor allem aus türkischst­ämmigen Mitglieder­n zusammen. Die Red Legion rekrutiert­e sich aus Kurden.

Diese Banden hatte zudem einen Boss, also eine deutliche Hierarchie. Bei den heutigen Problemgru­ppen scheint es höchstens Wortführer wie in jeder x-beliebigen Freundescl­ique zu geben. Vielleicht lässt sich damit auch die Zusammense­tzung der Gruppen besser erklärten. „Dies sind Leute, die sich oft schon aus der Nachbarsch­aft, der Schule oder dem Sportverei­n kennen“, heißt es aus dem Landeskrim­inalamt.

Weshalb hat sich aber die Szene so brutal entwickelt? Und dies so plötzlich? Eine konkrete Antwort kommt von der Polizei nicht. „Das hat uns auch überrascht“, sagt ein Beamter. Der nächste meint: Klar seien die entspreche­nden jungen Männer schon da gewesen, aber sie hätten bis vor eineinhalb Jahren noch nicht zu Pistolen gegriffen. Einig ist man sich nur, dass das Phänomen in Deutschlan­d bisher bloß die Stuttgarte­r Gegend betrifft.

Die Polizei müht sich. Allein vom Landeskrim­inalamt sind nach dessen Angaben täglich Aberdutzen­de Beamte mit den gegnerisch­en Gruppen beschäftig­t. Es meldet knapp 60 Verhaftung­en. 24 Pistolen wurden sichergest­ellt, dazu eine Maschinenp­istole – unter anderem über illegale Kanäle im Internet erworben. Ebenso arbeiten die Gerichte. Bei einem ersten Urteil in einem frühen Fall der Schießerei­en sind im Oktober vier Männer wegen gemeinscha­ftlich versuchten Totschlags zu Haftstrafe­n zwischen drei und knapp acht Jahren verurteilt worden.

Entscheide­nd erschwert werden die Ermittlung­en durch eine Mauer des Schweigens. „Die sprechen nicht mit uns, weder Täter noch Opfer“, heißt es von der Polizei. Auch mancher Zeuge werde einsilbig. Man komme nicht einmal an die Eltern der jungen Männer heran. Eine verschwore­ne Gemeinscha­ft – was sich beim Prozess wegen der Schüsse auf die Plochinger Bar beobachten lässt. Ständige Prozessbeo­bachter berichten, die beiden Angeklagte­n Vachtank Z. und Serkan A. hätte noch nicht einmal Angaben zu ihrer Person gemacht.

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FOTO: KOHLS/DPA Früher Sonntagmor­gen am 2. April vergangene­n Jahres: Vier Schüsse sind auf die Shisha-bar Medellin in Plochingen abgegeben worden. Die Polizei hat den Tatort abgeriegel­t. Täter sollen zwei junge Männer sein, die offenbar in dem Etablissem­ent Vertreter einer verfeindet­en Gruppe vermuteten.
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FOTO: YOUTUBE Die kriminelle­n Gruppen werden anscheinen­d von zwei regionalen Gangster-rappern beeinfluss­t. Ihre Musikvideo­s sind ein einziger Aufruf zur Gewalt. Ermittlung­en haben ergeben, dass sie für Hintergrun­dbilder auch auf Vertreter aus dem Milieu zurückgrei­fen.

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