Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

„Für mich ist jeder Tag der 6. Februar“

Eine Mutter kämpft um Gerechtigk­eit für die Opfer des Erdbebens in der Türkei. Naturkatas­trophe jährt sich zum ersten Mal.

- Von Susanne Güsten ●

Rusen Karakaya trägt Trauer: schwarzes T-shirt, schwarze Jeans und schwarze Turnschuhe, die schwarzen Haare hochgestec­kt, die Augen gerötet. Um den Hals trägt sie ein Goldkettch­en mit einem goldenen Schriftzug: Selin – der Name ihrer Tochter, die beim Erdbeben in der Türkei vor einem Jahr getötet wurde. Die Zeit heile gar nichts, erzählt die Hochschull­ehrerin ein Jahr nach der Katastroph­e: „Ich wache immer am selben Tag auf: am 6. Februar. Wenn ich die Augen öffne, ist die Erinnerung da. Ich blicke in das Zimmer meiner Tochter, und es ist leer.“Ihr Leben sei vorbei, sagt Karakaya. Aber ihr Kampf habe erst begonnen.

Ein Jahr ist es her, dass Rusen Karakaya ihre Tochter zum letzten Mal umarmte. Am 3. Februar 2023 war das, als Selin vor ihrer Schule in Famagusta im türkischen Teil von Zypern in einen Bus zum Flughafen kletterte. Freudige Aufregung herrschte in dem Bus, der voller Kinder war: 24 Volleyball­spielerinn­en und Spieler im Alter von zwölf bis 15 Jahren; außerdem eine kleine Schwester, die mitreisen durfte, ein jugendlich­er Hilfstrain­er und 13 Erwachsene: Lehrer, Trainer und einige Eltern als Aufsicht. Ihr Ziel: das Halbfinale der türkischen Volleyball-meistersch­aften im südtürkisc­hen Adiyaman.

Das Team kam am frühen Abend in Adiyaman an, erzählt Rusen Karakaya im Vereinshei­m von Selins Volleyball­mannschaft in Famagusta. Es ist mit Trophäen und Bildern der toten Kinder geschmückt. „Ich hatte mir das Hotel vorher auf Google angesehen. Da waren Fotos und Bewertunge­n, das sah alles gut aus, und so sagten wir, in Ordnung, das scheint tatsächlic­h das beste Hotel in Adiyaman zu sein. Als Selin sich bei der Ankunft meldete, habe ich sie nur gefragt, ob das Hotel sauber ist.“Karakaya schluchzt auf: „Das ist alles, was ich gefragt habe: ob es sauber ist ...“

Isias hieß das Hotel: Grand Isias Hotel. Die Bilder und Bewertunge­n, die Rusen Karakaya und ihr Mann Enver damals betrachtet­en, sind heute noch im Internet zu sehen, auch wenn noch

Schutt dort liegt: ein zehnstöcki­ger Bau mit verspiegel­ter Fassade und vier Sternen, ein helles Foyer, großzügige Zimmer mit modernen Bädern – die Art von Hotel, wo im Badezimmer ein Telefon hängt. Selin bezog mit ihren drei besten Freundinne­n gemeinsam ein Zimmer.

Mutter und Tochter schickten sich täglich Textnachri­chten und plauderten per Facetime. „Am Abend des 5. Februar haben wir getextet, und ich habe gefragt, willst du per Facetime reden?“, erzählt Karakaya. „Sie antwortete, Mama, ich bin müde und gehe schlafen, wir sprechen uns morgen. Sie schrieb mir gute Nacht, Mama, und ich schrieb gute Nacht, Selin, ich liebe dich.“Karakaya kommen wieder die Tränen. „Ich habe sie nicht mehr gesprochen an dem Abend, das bereue ich so sehr.“

Es war ihr letzter Kontakt zu ihrer Tochter, die eine Woche zuvor 14 Jahre alt geworden war. Um 4.17 Uhr am 6. Februar erschütter­te ein gewaltiges Erdbeben der Stärke 7,8 die Südosttürk­ei rings um Adiyaman. Auf Zypern war es 3.17 Uhr; bis dorthin war das Beben zu spüren. „Ich bin von dem Beben aufgewacht, mein Mann sagte, los, raus, ich griff nach dem Telefon, rannte in den Garten und rief Selin an. Sie ging nicht dran. Ich rief wieder an und wieder und wieder. Nichts.“Karakaya und ihr Mann versuchten die Lehrer und Trainer anzurufen, die mitgereist­en Eltern, doch nirgends bekamen sie auch nur ein Klingelzei­chen.

Die Karakayas streiften sich Jacken und Stiefel über und fuhren zum Flughafen. „Da herrschte Chaos. Immer mehr Eltern kamen an, Flüge wurden gestrichen, alles schrie und weinte. Wir haben alle herumtelef­oniert, die Regierung, den Präsidente­n, alle, und haben um ein Rettungsfl­ugzeug gef leht.“Es wurde Nachmittag, bis ein Flugzeug mit einer Rettungsma­nnschaft startklar war. Die Väter durften mitf liegen, die Mütter nicht. Enver Karakaya flog mit dem Team in die Türkei, seine Frau musste allein nach Hause zurückkehr­en.

„Ich habe keine Sekunde gedacht, dass Selin tot sein könnte“, erzählt Karakaya. „Ich habe nur gebetet, dass sie vorsichtig ist,

dass sie sich nicht verirrt und nicht mit Fremden spricht.“Dann rief ihr Mann an. „Er sagte: Ich bin angekommen – aber hier ist nichts mehr.“Statt des Hotels fanden Enver Karakaya und die anderen Väter und Helfer aus Zypern nur noch einen Schutthauf­en. Als wäre ein riesiger Eimer voller Sand umgestülpt worden, so beschrieb später ein Gutachter die Einsturzst­elle des Hotel Isias.

„Enver hat mich angerufen und gesagt, wir graben mit den nackten Händen“, erzählt Karakaya. „Vielleicht ist irgendwo da drin ein Hohlraum, in dem einige Kinder am Leben sind.“Es gab keinen Hohlraum. Keines der Kinder überlebte. Selin und ihre drei Freundinne­n wurden am 11. Februar

ausgegrabe­n, fünf Tage nach dem Beben. „Enver hat mich angerufen. Er sagte, ich habe sie gefunden. Sie trug die Socken, die sie so liebte ...“Rusen Karakaya bleibt die Stimme weg, sie ringt nach Atem. „Die Kinder wurden in Särgen heimgebrac­ht“, sagt sie mit erstickter Stimme. „Und wir haben unsere 14-Jährige beerdigt.“

Rasch wurde in Zypern die Frage laut, warum das Hotel Isias beim ersten Erdstoß in sich zusammensa­ckte, während andere Gebäude ringsum stehen blieben. „Es war Mord“, sagt Rusen Karakaya. „Sie haben sich nicht um die Gesetze geschert. Sie haben sich nicht an die Bauvorschr­iften gehalten. Sie haben die Behörden geschmiert. Alles, um Gewinn und Geld zu machen. Sie waren gierig. Sie sind Mörder.“

Sie – damit meint Karakaya den Hotelbesit­zer und Bauherren, die Architekte­n und Ingenieure und die Bauaufsich­tsbehörden bis hinauf zur türkischen Regierung, die Bausünden gegen Geld mit einer Amnestie legalisier­te. Denn das Hotel Isias, so stellte sich heraus, war trotz seiner glitzernde­n Fassade ein Paradebeis­piel für den in der Türkei verbreitet­en Pfusch am Bau. 1992 als Wohnblock geplant, blieb das Gebäude jahrelang als Rohbau stehen. Erst ein Jahrzehnt später wurde es fertig gebaut und als Hotel genehmigt, obwohl sich seither die Bauvorschr­iften geändert hatten. Gutachten zufolge wurde beim Bau minderwert­iges Material verwendet. Zuletzt wurde noch ein ungenehmig­tes Stockwerk aufgesetzt und bei der Bau-amnestie im Jahr 2018 legalisier­t.

„Wir werden Gerechtigk­eit für unsere Kinder erkämpfen“, sagt Karakaya. Dafür schlossen sich die zyprischen Eltern zu einem Verein zusammen, dessen Vorsitzend­e sie ist. Die Anwaltskam­mer von Nordzypern vertritt den Verein pro bono, auch die Regierung hilft. Die Gesichter der 26 getöteten Kinder kennt in Nordzypern jeder, sie lächeln als „Mannschaft der Engel“aus den Medien und von Plakatwänd­en.

Ein kulturelle­r Unterschie­d ist das zur Türkei. In der türkischen Erdbebenre­gion habe er beobachtet, dass die Menschen das Erdbeben als Schicksal hinnehmen, berichtet der Anwaltskam­mervorsitz­ende Hasan Esendagli in seinem Büro im türkischen Sektor der Hauptstadt Nikosia.

Am 3. Januar dieses Jahres wurde in Adiyaman der Prozess gegen den inhaftiert­en Besitzer des Hotel Isias und zehn weitere Angeklagte eröffnet, darunter Architekt und Ingenieur. Bewusste fahrlässig­e Tötung lautet der Vorwurf der Staatsanwa­ltschaft, eine Eigenheit des türkischen Strafrecht­s, auf die bis zu 22,5 Jahre Haft stehen. Die Angehörige­n der getöteten Kinder waren entgeister­t; als Nebenkläge­r in dem Prozess fordern sie die Verurteilu­ng wegen vorsätzlic­her Tötung und lebenslang­e Haft. Bestürzt waren die Angehörige­n auch darüber, dass die Angeklagte­n nicht vor Gericht erscheinen mussten, sondern per Videoschal­te am Prozess teilnahmen. „Ich will ihnen ins Gesicht sagen, dass sie meine Tochter getötet haben”, sagte Rusen Karakaya, die zum Prozessbeg­inn nach Adiyaman reiste.

Per Videoschal­te wies der Hotelbesit­zer in der Verhandlun­g alle Schuld von sich. Wenn es kein so starkes Erdbeben gegeben hätte, dann wäre sein Hotel nicht eingestürz­t, sagte er. Das Gericht vertagte sich auf den 26. April. Anwaltskam­merchef Esendagli sieht die weiteren Aussichten nüchtern. „Wenn wir uns ähnliche Fälle in der türkischen Rechtsprec­hung ansehen, dann finden wir keine Gerichtsur­teile, in denen die verantwort­lichen Personen mit hohen Strafen, mit abschrecke­nden Strafen belegt wurden – die Bilanz der Türkei ist da nicht gut”, sagt Esendagli.

In Adiyaman hat sich der Staub noch nicht gelegt. Ein Jahr nach dem Beben werden noch immer Ruinen abgerissen, Zehntausen­de Menschen hausen in Notunterkü­nften. In einer Klinik am Stadtrand behandelt der Arzt Ismail Tosun die Bewohner der umliegende­n Containerl­ager, die unter der Kälte leiden, der asbestbela­steten Luft und dem verseuchte­n Wasser. Tosun ist Vorsitzend­er der Ärztekamme­r von Adiyaman und hat seine Befürchtun­gen, was den Isias-prozess angeht. „Tausende weitere Gebäude sind eingestürz­t – was ist mit denen?”, fragt der Arzt. „Wenn es immer nur um Isias geht, dann wird es leider wieder damit enden: Die Bauherren vom Isias werden zu hohen Strafen verurteilt, alle anderen werden laufen gelassen. Das war schon beim Erdbeben von Izmit 1999 so – da wurde ein einziger Bauunterne­hmer verhaftet und medienwirk­sam verurteilt, und alle anderen kamen davon. So wie es aussieht, wird es in Adiyaman genauso laufen.”

Isias solle ein Präzedenzf­all werden, hofft dagegen Rusen Karakaya; das sei das einzige, was sie noch vom Leben wolle. „Mein Leben drehte sich um Selin, für sie habe ich gelebt“, sagt die Mutter. „Nun dreht es sich um diesen Kampf, denn sonst habe ich nichts mehr – kein Kind, keine Ziele und keine Hoffnungen.“

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Hier starben Selin und ihre Teamkolleg­innen am 6. Februar 2023.
FOTO: SUSANNE GÜSTEN Vom Hotel Isisas steht nur noch die Einfahrt in die Garage. Hier starben Selin und ihre Teamkolleg­innen am 6. Februar 2023.
 ?? FOTO: SUSANNE GÜSTEN ?? Ein Bild aus glückliche­n Tagen: Rusen, Selin und Enver Kararkaya vor der Katastroph­e.
FOTO: SUSANNE GÜSTEN Ein Bild aus glückliche­n Tagen: Rusen, Selin und Enver Kararkaya vor der Katastroph­e.
 ?? FOTO: MOISES CASTILLO/DPA ?? El Salvadors Präsident Nayib Bukele mit seiner Frau Gabriela Rodriguez auf dem Balkon des Präsidente­npalasts.
FOTO: MOISES CASTILLO/DPA El Salvadors Präsident Nayib Bukele mit seiner Frau Gabriela Rodriguez auf dem Balkon des Präsidente­npalasts.

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