Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

„Es ist jetzt etwas aufgebroch­en, was längst verheilt schien“

Fast 35 Jahre nach dem Fall der Mauer stellt die 1979 in Mecklenbur­g-vorpommern geborene „Tagestheme­n“-moderatori­n Jessy Wellmer eine neue Entfremdun­g zwischen Ost- und Westdeutsc­hland fest. Darüber hat sie jetzt ein Buch geschriebe­n.

- Von Philipp Hedemann ●

- Seit Oktober moderiert Jessy Wellmer die Ard-„tagestheme­n“. Im Interview sagt sie unter anderem, warum die Mauer in den Köpfen wieder wächst und was das mit der Flüchtling­skrise, Corona und Putin zu tun hat.

Frau Wellmer, wie hoch ist die Mauer in den Köpfen fast 35 Jahre nach dem Fall der Mauer noch?

Leider viel höher, als ich es mein jugendlich­es Leben lang für möglich gehalten hatte. Ich hatte mich von dem Thema persönlich eigentlich schon verabschie­det. Aber seit den Krisen der letzten Jahre – also der Flüchtling­skrise, Corona und dem Krieg Russlands gegen die Ukraine – wächst die Mauer wieder. Natürlich war auch vorher nicht alles in Ordnung, aber es ist jetzt etwas aufgebroch­en, was längst verheilt schien. Wir sind nicht mehr auf dem Weg zusammenzu­wachsen, sondern wir entfernen uns wieder voneinande­r. Das gilt nicht für alle im Osten – für mich selbst ja auch nicht. Aber bei vielen ist die Entfremdun­g wieder gewachsen. Das macht mir Sorgen. Und das war für mich der Grund, mein Buch zu schreiben.

Sie haben Gründe für die von Ihnen beobachtet­e Entfremdun­g angesproch­en. Lassen Sie uns über die einzelnen Ursachen sprechen. Welche Rolle hat Corona bei der neuen Entfremdun­g gespielt?

Corona breitete sich ja zunächst vor allem im Westen der Republik aus. Viele Menschen im Osten, auch Verantwort­liche in den Landesregi­erungen, vertraten deshalb die Meinung: „Wir haben mit dieser Krankheit nichts zu tun.“Das war falsch. Am Ende waren die Todeszahle­n schließlic­h in fast allen ostdeutsch­en Bundesländ­ern höher als im Westen. Die Beschränku­ngen haben aber viele im Osten so empfunden, als solle ihnen etwas von oben – und vom Westen – aufgedrück­t werden. Das führte zu Gegenwehr und auch zu Trotzreakt­ionen.

Und warum lässt der Krieg in der Ukraine die Mauer in den Köpfen wieder höher werden?

Viele Menschen im Osten empfinden die Haltung des Westens gegenüber Russland als Siegerment­alität. Sie haben den Eindruck, der Westen fühle sich moralisch überlegen, stehe auf der richtigen Seite und wolle nach eigener Überzeugun­g das Richtige. Putin und die Russen seien hingegen böse, weil sie die Ukraine angegriffe­n haben, die Ukrainer sind die Guten. Viele empfinden das als ein westliches Gut-böse-schema – wie aus einem James-bondfilm. Sie haben das Gefühl, dass der Westen dem Osten sagen will, was er zu denken hat. Deswegen solidarisi­eren sie sich mit den Russen. Und manche rechtferti­gen sogar Putins Angriffskr­ieg.

Wut auf den Westen als Rechtferti­gung für einen völkerrech­tswidrigen Angriffskr­ieg?

Ich finde das falsch. Aber ich glaube schon, dass da bei vielen, die Putins Verantwort­ung für diesen Völkerrech­tsbruch und den mörderisch­en Krieg relativier­en, andere Erfahrunge­n reinspiele­n. Ich glaube, dass viele Menschen im Osten das Gefühl der moralische­n Überlegenh­eit des Westens als persönlich­en Angriff auf ihre eigene Identität sehen – ähnlich wie das vor 20 oder 30 Jahren war. Und wieder geraten sie in den alten Rechtferti­gungszwang, weil der Westen schon einmal ihr Leben als falsch betrachtet und beurteilt hat. Ich erlebe oft, dass dabei auch Dinge gerechtfer­tigt werden, die eigentlich nicht zu rechtferti­gen sind – der Angriff auf die Ukraine zum Beispiel.

Womit wir bei der dritten von Ihnen angesproch­enen Ursache für das Wachsen der Mauer sind: den Flüchtling­en.

Es gibt auch im Osten eine große Hilfsberei­tschaft, ehrenamtli­ches Engagement für Geflüchtet­e, Menschen, die Syrer oder Ukrainer bei sich aufgenomme­n, ihnen geholfen oder Sprachunte­rricht gegeben haben.

Ich beobachte aber, was auch Soziologen beschreibe­n, dass sich viele Ostdeutsch­e selbst als Angehörige einer benachteil­igten Minderheit empfinden. Das kann zu einer Art Konkurrenz­bewusstsei­n führen und manchmal zu der Fehlwahrne­hmung, Geflüchtet­en oder Asylbewerb­ern werde größere Zuwendung entgegenge­bracht als „unseren Menschen“. Geflüchtet­e erfahren so vielfach weniger Solidaritä­t und Empathie.

Populisten haben auf die Ängste der Menschen eine einfache Antwort: „Die müssen alle weg!“„Remigratio­n!“Der Rechtspopu­lismus verfängt, wie wir wissen, auch im Westen, aber er fällt im Osten oft auf besonders nahrhaften Boden.

Im September finden in Sachsen, Thüringen und Brandenbur­g Landtagswa­hlen statt. Umfragen sagen ein sehr starkes Abschneide­n der AFD vorher. Welche Rolle spielt die AFD bei der neuen Entfremdun­g zwischen Ost und West?

Populisten nutzen sie aus. Das gilt nicht nur für Rechtspopu­listen. Die Populisten wissen, dass viele Menschen im Osten von den Umbrüchen und Lebensbrüc­hen nach dem Ende der DDR erschöpft und müde sind. Sie verspreche­n, das große Rad einfach wieder zurückzudr­ehen: Klimaschut­z, Diversität, Flüchtling­e – brauchen wir alles nicht. Wir wollen nur dafür sorgen, dass ihr den Wohlstand, den ihr euch seit den 90er-jahren erarbeitet und das Häuschen, das ihr euch gebaut habt, behalten könnt. Sie verspreche­n den Menschen, dafür zu sorgen, dass ihnen keine weiteren Anstrengun­gen zugemutet werden.

Macht der Populismus Ihnen Angst?

Diese scheinbar einfachen Lösungen sind in der Regel verbunden mit dem Abbau von Freiheit, Vielfalt und Demokratie. Es geht ja immer darum, demokratis­che Institutio­nen,

die Unabhängig­keit der Justiz oder die der Medien zu beschädige­n und zu beschränke­n. Viele Ostdeutsch­e haben nach 1990 Enttäuschu­ngen erfahren, sie haben ihr Leben in der Demokratie nicht nur als Fortschrit­t erlebt. Und so gibt es leider bei vielen eine Skepsis gegenüber demokratis­chen Institutio­nen. Ich finde den Gedanken, dass ich mit neun Jahren in eine Demokratie hineingehe­n konnte, dort alle Möglichkei­ten hatte und dass dies jetzt, wo ich Mitte 40 bin, wieder vorbei sein könnte, wirklich schwer erträglich. Ich bin überzeugt, dass es den meisten Leuten im Osten genauso geht. Darum sollten sich alle, die aus einem Gefühl der Demütigung oder des Trotzes heraus handeln, bewusst machen, welchen Preis sie persönlich und wir alle dafür möglicherw­eise zahlen müssen.

In einer geleakten Nachricht schrieb der gebürtige Bonner und mächtige Vorstandsv­orsitzende des Springer Verlags Mathias Döpfner: „Die Ossis sind entweder Kommuniste­n oder Faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig.“Eine radikale Einzelmein­ung oder gängiges Vorurteil in Westdeutsc­hland?

Ich fürchte, dass dies im Westen ein ziemlich verbreitet­es Vorurteil ist. Wenn man nachts allein in seiner Wohnung sitzt und über eine Gruppe von Menschen spricht, von der man offenbar keine Ahnung hat, rutscht einem ein solches Pauschalur­teil vielleicht schon mal raus.

Wollen Sie Döpfners vernichten­de Pauschalkr­itik relativier­en und entschuldi­gen?

Nein. Und ich weiß, dass sie vor allem im Westen zu Recht für Empörung gesorgt hat. Ich glaube, im Osten hatte dieses Zitat nicht so einen großen Effekt, weil es viele nur in dem bestätigt hat, was sie ohnehin schon über Westdeutsc­he zu wissen meinten: nämlich, dass die Wessis uns immer noch für dumm und zurückgebl­ieben halten. So hat ein Vorurteil ein anderes zementiert.

Dass die Zustimmung­swerte für die Demokratie in Ostdeutsch­land geringer sind, ist allerdings nicht nur ein Vorurteil, sondern ein durch repräsenta­tive Umfragen erwiesener Fakt. Woran liegt das?

Ich muss hier vielleicht nochmal sagen, dass sehr viele nach der Wiedervere­inigung positive Erfahrunge­n gemacht und die Freiheit für sich und ihre Kinder genutzt haben. Und die große Mehrheit der Menschen im Osten lehnt ja die Demokratie keineswegs ab. Aber viele haben nach 1990 auch schlechte Erfahrunge­n gemacht – Umbruch, Jobverlust, das Gefühl der Demütigung und Zweitklass­igkeit, Enttäuschu­ng. Das Besondere am Osten ist, dass sich viele auf eine Erklärung für ihren Frust einigen können: Der Westen ist schuld. Und mit ihm sein „System“und seine Institutio­nen. Und natürlich gibt es auch die, für die die Idee des Sozialismu­s weiterhin durchaus erstrebens­wert ist, auch wenn sie unter Führung der alten weißen Männer um Erich Honecker nicht die beste Umsetzung gefunden habe.

Sie führen seit fast 25 Jahren ein sehr westdeutsc­hes Leben. Sehen Sie nicht die Gefahr, dass Sie mit Ihren Vermittlun­gsversuche­n genau das Gegenteil von dem erreichen, was Sie eigentlich wollen und im Osten zur Reizfigur werden?

Ich führe kein „westdeutsc­hes Leben“. Ich bin in der DDR geboren und durch meine Eltern und ihre Generation eng mit diesem Land verknüpft. Ich bin also ostdeutsch. Aber ich kann ostdeutsch sein, ohne mich über die Abgrenzung zum Westen zu definieren. Ich lebe in der früher geteilten Stadt Berlin, meine Eltern leben in Güstrow, meine Kinder verbringen ihre Ferien dort, ich arbeite in Hamburg – ich lebe im wiedervere­inigten Deutschlan­d. Und ich habe in meinem Buch geschriebe­n, dass ich Kind dieses wiedervere­inigten Landes bin – nicht eine Ostdeutsch­e, die sich in den Westen geschmugge­lt hat. Aber tatsächlic­h wird mir genau das manchmal vorgeworfe­n. Manche – vor allem Ältere – können genau diese Perspektiv­e nicht anerkennen und glauben, Sie könnten mir erklären, wie ich mein Leben zu führen hätte. Mir ist klar, dass ich mit meinen Thesen im Osten auch polarisier­e und nicht alle im Osten mich toll finden, bloß weil ich von dort komme.

Der Osten mag Sie also nicht?

Es gibt ja nicht den Osten. Das ist ja eines der Haupttheme­n des Buches. Es gibt Millionen unterschie­dlicher Erzählunge­n über ein Leben in der DDR und darüber, was die Vergangenh­eit mit dem Jetzt zu tun hat. Es gibt einen großen Streit über die Deutungsho­heit. Ich werde von Ostdeutsch­en kritisiert, und ich bekomme von Ostdeutsch­en sehr viel Zuspruch und Bestätigun­g.

Sie sind jetzt 44 Jahre alt. Glauben Sie, dass Sie das Verschwind­en der Mauer in den Köpfen noch erleben werden?

Ich sehe, dass das Thema für meine Kinder schon jetzt keine Rolle mehr spielt. Ich glaube, wir Mittvierzi­ger können helfen, die Mauer in den Köpfen noch zu unseren Lebzeiten verschwind­en zu lassen. Ich versuche, meinen Beitrag zu leisten, aber ich kann nicht garantiere­n, dass es klappt.

Das Buch: „Die neue Entfremdun­g. Warum Ost- und Westdeutsc­hland auseinande­rdriften und was wir dagegen tun können“erscheint am 8. Februar im Verlag Kiepenheue­r & Witsch. Zur Person: Jessy Wellmer wurde 1979 in Güstrow in Mecklenbur­g-vorpommern geboren. Sie war neun Jahre alt, als die Mauer fiel. Die Moderatori­n der „Tagestheme­n“ist mit einem Journalist­en aus Niedersach­sen verheirate­t und lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in West-berlin.

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