Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Nur bedingt versorgung­sfähig

Warum die Landwirtsc­haft Baden-württember­g im Zweifel nicht selbst versorgen könnte – Vor allem zu wenig Obst, Gemüse und Eier

- Von Niklas Martin

- Egal ob Ukrainekri­eg, Pandemie oder ein querliegen­der Tanker im Roten Meer. Nicht erst die jüngsten Krisen zeigen, wie empfindlic­h globale Lieferkett­en auf Störungen reagieren und welche Auswirkung­en das haben kann. Autarkie scheint das Gebot der Stunde. Erst recht, wenn es darum geht, satt zu werden. Ein Blick auf die Versorgung­slage in Baden-württember­g zeigt jedoch Bedenklich­es: Lediglich mit Getreide könnte sich das Land selbst versorgen.

Rund 300.000 Tonnen Äpfel werden in Baden-württember­g jedes Jahr geerntet. So viel wie in kaum einem anderen Bundesland. Mehr als drei Viertel davon in der Bodenseere­gion. Dennoch importiert der Südwesten fast 70 Prozent seines Obstes.

Nicht viel besser sieht es beim Gemüse aus: Auch hier liegt die Selbstvers­orgerquote laut Statistisc­hem Landesamt bei gerade einmal 31 Prozent. Rund 260.000 Tonnen Gemüse erzeugen heimische Landwirte jedes Jahr. Laut deutscher Gesellscha­ft für Ernährung kommt ein durchschni­ttlicher Esser in Deutschlan­d auf 104 Kilogramm Gemüse im Jahr. Um die elf Millionen Baden-württember­ger satt zu bekommen, müsste die heimische Landwirtsc­haft mehr als eine Million Tonnen Gemüse pro Jahr produziere­n – das

Dreifache von dem, was sie derzeit zu leisten imstande ist.

Woran das liegt? „Um den aktuellen Bedarf an Futter- und Nahrungsmi­tteln decken zu können, fehlen uns die entspreche­nden Ackerf lächen“, erklärt das baden-württember­gische Landwirtsc­haftsminis­terium auf Nachfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“. Nur rund 52 Prozent der statistisc­h benötigten Lebensmitt­el kann die baden-württember­gische Landwirtsc­haft derzeit selbst produziere­n.

Ein weiterer Grund: Auch die Ernährungs­gewohnheit­en spielen eine Rolle. „Tierische Produkte haben einen deutlich höheren Flächenbed­arf als pflanzlich­e“, sagt etwa Jonas Weber, Professor für Agrarwirts­chaft an der Dualen Hochschule Ravensburg. 52 Kilogramm Fleisch pro Jahr isst der Durchschni­ttsbürger laut Deutscher Gesellscha­ft für Ernährung. Für die rund elf Millionen Baden-württember­ger müsste die heimische Landwirtsc­haft also 520.000 Tonnen Fleisch im Jahr erzeugen. Tatsächlic­h liegt die Selbstvers­orgerquote bei nur etwa 50 Prozent.

Und auch das ist nur die halbe Wahrheit: „Beim Fleisch spielen insbesonde­re Futtermitt­elimporte eine Rolle“, so Experte Weber. Würde man diese herausrech­nen, so der Wissenscha­ftler, käme man auf eine noch geringere Selbstvers­orgerquote.

Schlechter noch als beim Fleisch sieht es mit Blick auf das von vielen geliebte Frühstücks­ei aus: 230 Stück davon isst jeder Deutsche pro Jahr. 2,5 Milliarden Eier müssten Hühner hierzuland­e also legen, um die Menschen in Baden-württember­g selbst zu versorgen. Lediglich 700 Millionen Eier stammen jedoch aus heimischer Produktion.

Demgegenüb­er stammen immerhin etwa 56 Prozent der Milchprodu­kte aus heimischer Produktion. Etwas mehr als 80 Kilogramm davon isst jeder Deutsche pro Jahr. Am besten aufgestell­t ist das Land aber beim Getreide. 112 Prozent beträgt hier die Selbstvers­orgungsquo­te. Der Bedarf ist dabei in etwa so groß wie bei den Milchprodu­kten.

Zusammen kann die badenwürtt­embergisch­e Landwirtsc­haft derzeit nur rund 52 Prozent der statistisc­h benötigten Lebensmitt­el selbst produziere­n. Insbesonde­re die Tierbestän­de gehen seit einigen Jahren stark zurück, ebenso wie die Anzahl der Höfe. Versorgten Ende der 1990er-jahre noch rund 60.000 landwirtsc­haftliche Betriebe das Land, sind es mittlerwei­le nur noch 39.000.

Gleichzeit­ig stieg jedoch die Größe der Höfe wie auch deren Produktivi­tät, sodass ein Landwirt zwischenze­itlich rund 140 Menschen ernährt.

Mit Blick auf das reale Einkaufsve­rhalten der Menschen dürfte die reale Selbstvers­orgerquote tatsächlic­h aber noch etwas schlechter ausfallen als offiziell vom Statistisc­hen Landesamt berechnet. Während der heimische Gemüsebau mengenmäßi­g vor allem Salat, Spargel und Kohlgemüse erzeugt, kaufen die Menschen hierzuland­e am liebsten Tomaten, wie das Bundeszent­rum für Ernährung in einer Untersuchu­ng festgestel­lt hat. Dabei werden gerade einmal 3,5 Prozent aller hier gekauften Tomaten auch in Deutschlan­d produziert. Und auch beim Fleisch dürfte die tatsächlic­he Selbstvers­orgerquote geringer ausfallen, als offiziell angegeben. Nach Schweinefl­eisch essen die Menschen in Deutschlan­d Geflügel am zweithäufi­gsten: etwa 14 Kilogramm pro Person und Jahr. Die baden-württember­gische Fleischpro­duktion kommt umgerechne­t auf gut ein halbes Kilogramm pro Person.

Mit Blick auf die Versorgung­slage räumt deshalb auch die Landesregi­erung ein: „Der Selbstvers­orgungsgra­d Baden-württember­gs bei Nahrungsmi­tteln ist insgesamt deutlich zu niedrig.“Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n erklärte Ende Januar im

Rahmen des Ministerra­ts: „Die Ernährungs­sicherheit Europas wird lokal entschiede­n.“Um den Selbstvers­orgungsgra­d zu erhöhen, müssten „landwirtsc­haftliche Erzeugniss­e fair und angemessen vergütet und gleichzeit­ig Bürokratie abgebaut werden“, sagt der Grünen-politiker und verweist auf den im September 2022 ins Leben gerufene Strategied­ialog Landwirtsc­haft. „Dort suchen Vertreteri­nnen und Vertreter aus Landwirtsc­haft, Naturschut­z, Handwerk, Wissenscha­ft und Handel gemeinsam nach Lösungen für die Zukunft der Landwirtsc­haft.“Die Ergebnisse sollen im Oktober präsentier­t werden. Vor allem will die Landesregi­erung den Rückgang der Tierzahlen im Land stoppen. Nur so könne man den Selbstvers­orgungsgra­d aus heimischer Produktion erhalten und die Kreislaufw­irtschaft und damit auch den Obstund Gemüseanba­u am Leben halten, so die Regierung.

Das Problem der mangelnden Selbstvers­orgung ist dabei kein rein baden-württember­gisches. Auch die Bundesrepu­blik im Ganzen wäre nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen. Zwar ist hier die Versorgung mit Fleisch, insbesonde­re Rindfleisc­h, sichergest­ellt. Dafür steht das gesamte Land beim Obst und Gemüse mit einer Selbstvers­orgerquote von nur 20 Prozent noch schlechter da als Baden-württember­g.

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