Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Nur bedingt versorgungsfähig
Warum die Landwirtschaft Baden-württemberg im Zweifel nicht selbst versorgen könnte – Vor allem zu wenig Obst, Gemüse und Eier
- Egal ob Ukrainekrieg, Pandemie oder ein querliegender Tanker im Roten Meer. Nicht erst die jüngsten Krisen zeigen, wie empfindlich globale Lieferketten auf Störungen reagieren und welche Auswirkungen das haben kann. Autarkie scheint das Gebot der Stunde. Erst recht, wenn es darum geht, satt zu werden. Ein Blick auf die Versorgungslage in Baden-württemberg zeigt jedoch Bedenkliches: Lediglich mit Getreide könnte sich das Land selbst versorgen.
Rund 300.000 Tonnen Äpfel werden in Baden-württemberg jedes Jahr geerntet. So viel wie in kaum einem anderen Bundesland. Mehr als drei Viertel davon in der Bodenseeregion. Dennoch importiert der Südwesten fast 70 Prozent seines Obstes.
Nicht viel besser sieht es beim Gemüse aus: Auch hier liegt die Selbstversorgerquote laut Statistischem Landesamt bei gerade einmal 31 Prozent. Rund 260.000 Tonnen Gemüse erzeugen heimische Landwirte jedes Jahr. Laut deutscher Gesellschaft für Ernährung kommt ein durchschnittlicher Esser in Deutschland auf 104 Kilogramm Gemüse im Jahr. Um die elf Millionen Baden-württemberger satt zu bekommen, müsste die heimische Landwirtschaft mehr als eine Million Tonnen Gemüse pro Jahr produzieren – das
Dreifache von dem, was sie derzeit zu leisten imstande ist.
Woran das liegt? „Um den aktuellen Bedarf an Futter- und Nahrungsmitteln decken zu können, fehlen uns die entsprechenden Ackerf lächen“, erklärt das baden-württembergische Landwirtschaftsministerium auf Nachfrage der „Schwäbischen Zeitung“. Nur rund 52 Prozent der statistisch benötigten Lebensmittel kann die baden-württembergische Landwirtschaft derzeit selbst produzieren.
Ein weiterer Grund: Auch die Ernährungsgewohnheiten spielen eine Rolle. „Tierische Produkte haben einen deutlich höheren Flächenbedarf als pflanzliche“, sagt etwa Jonas Weber, Professor für Agrarwirtschaft an der Dualen Hochschule Ravensburg. 52 Kilogramm Fleisch pro Jahr isst der Durchschnittsbürger laut Deutscher Gesellschaft für Ernährung. Für die rund elf Millionen Baden-württemberger müsste die heimische Landwirtschaft also 520.000 Tonnen Fleisch im Jahr erzeugen. Tatsächlich liegt die Selbstversorgerquote bei nur etwa 50 Prozent.
Und auch das ist nur die halbe Wahrheit: „Beim Fleisch spielen insbesondere Futtermittelimporte eine Rolle“, so Experte Weber. Würde man diese herausrechnen, so der Wissenschaftler, käme man auf eine noch geringere Selbstversorgerquote.
Schlechter noch als beim Fleisch sieht es mit Blick auf das von vielen geliebte Frühstücksei aus: 230 Stück davon isst jeder Deutsche pro Jahr. 2,5 Milliarden Eier müssten Hühner hierzulande also legen, um die Menschen in Baden-württemberg selbst zu versorgen. Lediglich 700 Millionen Eier stammen jedoch aus heimischer Produktion.
Demgegenüber stammen immerhin etwa 56 Prozent der Milchprodukte aus heimischer Produktion. Etwas mehr als 80 Kilogramm davon isst jeder Deutsche pro Jahr. Am besten aufgestellt ist das Land aber beim Getreide. 112 Prozent beträgt hier die Selbstversorgungsquote. Der Bedarf ist dabei in etwa so groß wie bei den Milchprodukten.
Zusammen kann die badenwürttembergische Landwirtschaft derzeit nur rund 52 Prozent der statistisch benötigten Lebensmittel selbst produzieren. Insbesondere die Tierbestände gehen seit einigen Jahren stark zurück, ebenso wie die Anzahl der Höfe. Versorgten Ende der 1990er-jahre noch rund 60.000 landwirtschaftliche Betriebe das Land, sind es mittlerweile nur noch 39.000.
Gleichzeitig stieg jedoch die Größe der Höfe wie auch deren Produktivität, sodass ein Landwirt zwischenzeitlich rund 140 Menschen ernährt.
Mit Blick auf das reale Einkaufsverhalten der Menschen dürfte die reale Selbstversorgerquote tatsächlich aber noch etwas schlechter ausfallen als offiziell vom Statistischen Landesamt berechnet. Während der heimische Gemüsebau mengenmäßig vor allem Salat, Spargel und Kohlgemüse erzeugt, kaufen die Menschen hierzulande am liebsten Tomaten, wie das Bundeszentrum für Ernährung in einer Untersuchung festgestellt hat. Dabei werden gerade einmal 3,5 Prozent aller hier gekauften Tomaten auch in Deutschland produziert. Und auch beim Fleisch dürfte die tatsächliche Selbstversorgerquote geringer ausfallen, als offiziell angegeben. Nach Schweinefleisch essen die Menschen in Deutschland Geflügel am zweithäufigsten: etwa 14 Kilogramm pro Person und Jahr. Die baden-württembergische Fleischproduktion kommt umgerechnet auf gut ein halbes Kilogramm pro Person.
Mit Blick auf die Versorgungslage räumt deshalb auch die Landesregierung ein: „Der Selbstversorgungsgrad Baden-württembergs bei Nahrungsmitteln ist insgesamt deutlich zu niedrig.“Ministerpräsident Winfried Kretschmann erklärte Ende Januar im
Rahmen des Ministerrats: „Die Ernährungssicherheit Europas wird lokal entschieden.“Um den Selbstversorgungsgrad zu erhöhen, müssten „landwirtschaftliche Erzeugnisse fair und angemessen vergütet und gleichzeitig Bürokratie abgebaut werden“, sagt der Grünen-politiker und verweist auf den im September 2022 ins Leben gerufene Strategiedialog Landwirtschaft. „Dort suchen Vertreterinnen und Vertreter aus Landwirtschaft, Naturschutz, Handwerk, Wissenschaft und Handel gemeinsam nach Lösungen für die Zukunft der Landwirtschaft.“Die Ergebnisse sollen im Oktober präsentiert werden. Vor allem will die Landesregierung den Rückgang der Tierzahlen im Land stoppen. Nur so könne man den Selbstversorgungsgrad aus heimischer Produktion erhalten und die Kreislaufwirtschaft und damit auch den Obstund Gemüseanbau am Leben halten, so die Regierung.
Das Problem der mangelnden Selbstversorgung ist dabei kein rein baden-württembergisches. Auch die Bundesrepublik im Ganzen wäre nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen. Zwar ist hier die Versorgung mit Fleisch, insbesondere Rindfleisch, sichergestellt. Dafür steht das gesamte Land beim Obst und Gemüse mit einer Selbstversorgerquote von nur 20 Prozent noch schlechter da als Baden-württemberg.