Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Verblüffendes Waldsilber
Weiße Waldrebe ist bei geöffneten Kapseln ein Hingucker
(gükü) - Es ist keine schwäbische Baumwolle, die ihre Kapseln geöffnet hat und zurzeit in naturnahen Kalkwäldern oder auch Auwäldern entlang der Donau im Gegenlicht silbern leuchtet. Die ins Auge springenden Silberbällchen gehören einem wilden Clematisgewächs an. Dessen kultivierte, großblütige Gattungsverwandten beeindrucken als beliebte Rankpflanzen in Hausgärten im Sommer mit üppigem roten, violetten und rosa Blütenf lor.
Dagegen besticht die in freier Natur entlang von Straßen-, Wald- und Wegrändern wachsende Weiße Waldrebe, Clematis vitalba, nach der Blütezeit durch attraktive Fruchtstände. Das Waldrankengewächs erklimmt Gebüsche. Es gehört zur Familie der Hahnenfußgewächse. Wie bei den Wildpf lanzen sind die Samenstände im Spät- und Frühjahr Hingucker bei den Zierverwandten am Haus und im Garten.
Es scheint, als würden wie an Ketten aufgereihte kleine Lampions frei in der Luft baumeln. Die luftig leichten Wattebäusche sind die Fruchtstände der Gemeinen Waldrebe. Die Waldranddekoration hängt in Girlanden im Gezweig halbschattig wachsender Sträucher und Bäume. Nur bei trockenem Wetter und Sonnenschein entfaltet sich ihre silberne Pracht.
Das heimische Lianengewächs hangelt sich im Laufe seines Wachstums mit dünnen, graubraunen und hohlen Stängeln von Zweig zu Zweig an den Stützpf lanzen nach oben. Gelegentlich windet sich die Schlingpflanze – stets links herum – sogar bis in die Wipfel von Bäumen. Hoch oben profitiert die Pflanze von besseren Lichtbedingungen. Zudem wird dort die Samenverbreitung ihrer Federschweiffrüchte durch Wind erleichtert.
Weiße Waldreben blühen von Juni bis September. Ihre Blüten enthalten keinen Nektar. Sie sind reine Pollenblumen. Ihr reiches Blütenstaubangebot lockt zahlreiche Insekten, vor allem Honigbienen, Käfer und Fliegen an. Alle Pflanzenteile der Weißen Waldrebe sind giftig. Von ihren grünen Blättern ernähren sich Nachtfalterraupen wie etwa diejenigen des außergewöhnlich gefärbten Waldreben-grünspanners, Hemistola chrysoprasaria.
Weil sie an Ranken ihrer Nahrungspflanze frei überwintern, kommt diese exklusive Nachtschmetterlingsart bei Radikalschnitt von Waldreben entlang von Wegen oft unters Messer.
Bemerkenswert ist der verblüffende, zweimalige Farbwechsel der Grünspannerraupen. Er ist als bewährte Überwinterungsstrategie für den Zeitraum erforderlich, in welchem Waldreben ihr grünes Blattwerk verlieren. Die halberwachsenen Räupchen legen sich deshalb im Herbst ein andersfarbiges Tarnkleid zu und verfärben sich von Grün zu Braun, womit sie sich farblich den bräunlichen Rebenranken anpassen. Die Umfärbung der Raupen ins ursprünglich grüne Aussehen im Frühjahr ist eine verblüffende evolutive Anpassung an den nun wieder beginnenden Austrieb grüner Blätter und wird durch deren Verzehr ausgelöst.
Die für Herbst und Winter charakteristischen Fruchtknäuel Weißer Waldreben bestehen aus hell strahlenden, silbrigweiß behaarten Flugorganen. Sie haben sich aus den Blütengriffeln während der Fruchtreife entwickelt und hängen jedem einzelnen reifen Früchtchen schweifartig an. Trockene Luft führt dazu, dass die Härchen sich abspreizen und die Windverbreitung der dunkelbraunen, abgeflachten Samen aus dem mehrfrüchtigen Samenzentrum der Silberbälle ermöglichen.
Im Naturhaushalt spielen die dekorativen Waldrebenfruchtstände eine wichtige Rolle auch für Vögel. Besonders im Frühjahr sind die haarigen Samenschweife bei Singvögeln begehrt. Sie schätzen die hauchfeinen, federleichten Haaranhängsel und zupfen sie zum Nestbau aus. Das weiche Nistmaterial eignet sich hervorragend zur Auspolsterung der Nestmulden und isoliert bestens. Transportverluste auf dem Flug zum Nistplatz bleiben nicht aus. Dadurch tragen Vögel nebenbei zur Samenverbreitung und damit zur Neuansiedlung der Kletterpf lanze an zufällig geeigneten Waldstandorten bei.