Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Der Kreuzschle­pper aus den Alpen

In der Städtische­n Galerie stellt eine besondere Figurengru­ppe den Leidensweg von Jesus dar

- Von Winfried Aßfalg

- Mit dem Einzug der Palmprozes­sion in St. Georg hat die Karwoche ihren Anfang genommen. Das heute nachempfun­dene Geschehen mit den Palmen findet seine Fortsetzun­g in der Darstellun­g des Geschehens um das Leiden Christi in dem großflächi­gen Wandbild aus dem Jahr 1589. Pilatus verurteilt Jesus zum Tode. Gefesselt wird Jesus abgeführt aus einer gotischen Halle auf den Marktplatz einer Stadt, in der man Riedlingen erkennen kann.

Dort werden bereits die gezimmerte­n Balken (nicht in Kreuzesfor­m) für die beiden Schächer aus dem Bild (aus der Stadt) getragen. Die Leidensges­chichte Christi findet in dem großen Kruzifix an der Chorwand seinen Abschluss. Weitere Erinnerung­en an das Geschehen in der Karwoche („Kar“bedeutet Trauer, Klage) können im Ölberg vor der Kapuzinerk­irche (1881 Figuren von Gabriel Lämmle) betrachtet werden. Im Innern der Klosterkir­che beeindruck­t der Schmerzens­mann im Kerker, auch Kerkerheil­and genannt, das von F. J. Spiegler gemalte Bild des Heilands am Ölberg als Supraporte am Hochaltar und die Grablegung Jesu auf dem Tafelbild.

Die Darstellun­g des Leidensweg­es Jesu ist in Jerusalem, dem historisch­en Ort des Geschehens, über die „Via dolorosa“seit dem 12./13. Jahrhunder­t bekannt und hat sich in der Wiedergabe des Geschehens in den heute bekannten 14 Kreuzwegst­ationen erhalten. Für die figürliche Gestaltung des Leidensweg­es Jesu lässt die V. Station den Künstlern verhältnis­mäßig viel Spielraum: „Auf dem Weg trafen sie einen Mann aus Cyrene namens Simon; ihn zwangen sie,

Jesus das Kreuz zu tragen.“So berichtet der Evangelist Matthäus (27,32). Allerdings zeigen die meisten Darstellun­gen keine Übernahme des schweren Kreuzes, sondern eine Mithilfe beim Tragen. Warum es gerade Simon traf, bleibt offen. Er kam wohl als nordafrika­nischer Migrant von der Feldarbeit und wurde zum Helfen gezwungen. Das römische Weltreich beherrscht­e große Teile Nordafrika­s zur Zeit Jesu, wozu auch die Stadt Cyrene gehörte (im heutigen Libyen).

Die ungezählte­n Kreuzwegda­rstellunge­n in katholisch­en Kirchen weltweit gehen auf franziskan­ische Traditione­n zurück. Der Heilige Franz von Assisi wollte „in allem den Fußspuren des gekreuzigt­en Jesus folgen“. Diese Haltung wurde von den Kapuzinern als dem Reformorde­n der Franziskan­er im 16. Jahrhunder­t übernommen und weitergepf legt. Seit dieser Zeit hat sich eine Szenenfolg­e von 14 Stationen herausgebi­ldet, die im Kapuzinerk­loster Riedlingen in Sonderform als 15. Station

im Auszug des Hochaltare­s mit der Kreuzauffi­ndung durch Kaiserin Helena endet.

Einer besonderen Betrachtun­g bietet sich die Gestaltung des Kreuzschle­ppers in der Städtische­n Galerie Riedlingen an. Ähnlich wie bei der etwas früher entstanden­en Figurengru­ppe im Münster von Heiligkreu­ztal aus der Werkstatt des Hans Multscher (Mitte 15. Jahrhunder­t) fällt der Größenunte­rschied zwischen Jesus und Simon in Riedlingen besonders auf. (Weitere Darstellun­gen dieser Art findet man auch in Sterzing, Brixen, Wetzlar und Oberrotwei­l.) Der extreme Größenunte­rschied (Jesusskulp­tur 150 cm, Simon 85 cm) ließ den Simon liebevoll zum „Simonle“werden, auch weil die Betrachter sich nicht ganz schlüssig waren, wen sie da vor sich stehen haben und ob diese klein gewachsene Person ein Junge oder ein Mann sein soll.

Mehr darüber lässt sich aus der Kleidung des Simon ableiten. Seit dem 16. Jahrhunder­t kennt man über schriftlic­he Quellen aus

Schwaz (Tirol) und Gossensass (am Brenner) Beschreibu­ngen der Bergleute und deren Bekleidung. Die Grubenarbe­iter trugen Bergkittel, die einen Nacken- und Schultersc­hutz haben, der mit der Gugl, einer Kapuze, verbunden ist. Die Gugl war die einzige Kopfbedeck­ung der Bergleute. Daraus entwickelt­en sich zwei separate Kleidungss­tücke: aus dem Kragen der Goller oder die Pelerine als Schulterum­hang, aus dem Kopfteil die Zipfelmütz­e, dann auch zum Schutz des Kopfs mit Stroh ausgestopf­t. Die schweren Grubenschu­he waren aus kostbarem Leder.

Dass es sich bei der Riedlinger Simon-figur um einen Erwachsene­n handelt, lässt sich am Bartwuchs ablesen. Demnach muss es sich um kleinwüchs­ige Bergleute gehandelt haben, die mit einer Körpergröß­e von unter 150 cm für die Arbeit unter Tage und in engen Stollen besonders geeignet waren. Das Vorkommen des als Kretinismu­s bezeichnet­e Kleinwüchs­igkeit wurde besonders stark in den Alpentäler­n beobachtet und führte wegen starkem Jodmangel zu diesem Erscheinun­gsbild. Die Umsetzung der historisch­en Begebenhei­t wird verstärkt durch den überliefer­ten Hinweis, die Riedlinger Figurengru­ppe des Kreuzschle­ppers (spätes 17. Jahrhunder­t) stamme aus Tirol. Auf den Beruf eines Bergmannes weist auch das „Gezähe“genannte Werkzeug hin, das in Form eines Schlägels und Bergeisens am Bundgürtel hängt. Darauf liegt die kleine, lederne Proviant-tasche.

Simon von Cyrene, dem Fremden in Jerusalem, erging es ebenso wie den kleinwüchs­igen jungen Männern in den Bergwerken der Alpen. Sie hatten keine andere Wahl.

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 ?? FOTOS: WINFRIED ASSFALG/NATASCHA SCHWEIZER ?? Links: Die als Kreuzschle­pper bekannte Figurengru­ppe aus dem späten 17. Jahrhunder­t aus Eichenholz stammt der Überliefer­ung nach aus Tirol (Städtische Galerie zum Hl. Geist, Riedlingen). Rechts: In Kleidung und Ausstattun­g erkennt man in diesem Simon von Cyrene einen kleinwüchs­igen Tiroler Bergmann.
FOTOS: WINFRIED ASSFALG/NATASCHA SCHWEIZER Links: Die als Kreuzschle­pper bekannte Figurengru­ppe aus dem späten 17. Jahrhunder­t aus Eichenholz stammt der Überliefer­ung nach aus Tirol (Städtische Galerie zum Hl. Geist, Riedlingen). Rechts: In Kleidung und Ausstattun­g erkennt man in diesem Simon von Cyrene einen kleinwüchs­igen Tiroler Bergmann.

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